"Die Kirche betreibt keine Reconquista"

Werbung
Werbung
Werbung

Vier Kardinäle in Wien zum Start der Städtemission in Wien, Paris, Lissabon und Brüssel am letzten Samstag. Im folgenden Gespräch stellt der Pariser Erzbischof Gedanken über Sinn, Ziel Perspektiven und Notwendigkeit einer Neu-Evangelisation Europas an.

die furche: Der Auftakt zur Stadtmission hat sie nach Wien geführt. Worin unterscheidet sich Evangelisierung heute von der Mission von gestern? Welche Erfahrungen machen Sie da in Frankreich, wo Kindertaufen zwar weniger, Erwachsenentaufen - zuletzt 2.400 - aber zahlreicher werden?

Kardinal Jean-Marie Lustiger: Es stimmt, es gibt viele, die heute ihre Kinder nicht mehr taufen lassen. Vielleicht sind sie aber deshalb nicht mehr oder weniger Christen als es ihre Eltern oder Großeltern waren. Früher war man katholisch, weil man Franzose war. Der Katholizismus war die Religion der Mehrheit. Aber auch damals konnte man auf Menschen mit katholischem Bekenntnis treffen, die nicht einmal an Gott glaubten. Was neu ist an unserer Situation, ist der gesellschaftliche Umbruch. Wir erleben heute eine Trennung zwischen Religion, Sitten, Kultur und Verhalten. Vieles davon ist nicht mehr christlich. Es geht also heute nicht nur um die Religion allein oder das soziale Gesicht der Religion in unserer Gesellschaft. Es geht um den Neuaufbau einer Zivilisation.

die furche: Das Wort "Mission" hat oft auch einen negativen Beigeschmack ...

Lustiger: Um es gleich vorwegzunehmen: Die Kirche befindet sich nicht in einer Reconquista. Das wäre ein großer Irrtum. Es gibt Leute, die immer noch glauben, dass die Kirche im Stil der vergangenen Jahrhunderte denkt. Diese Zeiten sind vorbei. Es geht nicht um Erneuerung eines alten Gebäudes. Wir sind in einer neuen Lage, in der auch die Verkündigung des Evangeliums neu ist. Klar ist eines: Nicht die Kirche ist krank, die Gesellschaft ist krank - und in dieser Situation sind auch die Christen krank. Es ist unsere Pflicht, das sehr ernst zu nehmen: Wir müssen Hoffnung, Liebe, Frieden und Wege für ein menschliches Leben verkündigen. Das ist die Kern der neuen Evangelisation.

die furche: Sie haben vom "Aufbau einer neuen Zivilisation" gesprochen. In Frankreich wird wie in vielen Ländern über Bioethik debattiert: Schadenersatz für behindert geborene Kinder, Euthanasie, verbrauchende Embryonenforschung ... Was macht die Menschlichkeit einer Zivilisation aus?

Lustiger: Unsere Zivilisation steht vor einer Grundsatzentscheidung. Sie ist auf technischem Gebiet hochentwickelt und mächtig, genau das kann aber zu ihrem eigenen Tod führen. Wenn man sich im Lauf der Geschichte ansieht, was zum Tod ganzer Zivilisationen geführt hat, sieht man, dass weder die Anhäufung von Wissen, Macht oder Reichtum das Überleben einer Zivilisation sichert. Es hängt davon ab, in wie weit eine Zivilisation fähig ist, den von ihr hervorgebrachten Fortschritt auch auf moralischer und menschlicher Ebene zu übernehmen. Überall dort, wo dieses Moment fehlt, sterben Zivilisationen. Wie zivilisiert eine Gesellschaft ist, hängt letztlich von ihren Idealen, von ihrer Seele ab.

die furche: Also zum Beispiel der Einsatz für Menschenrechte?

Lustiger: Sich für die Menschenrechte einsetzen heißt, die Menschlichkeit des Menschen achten - und ihren höchsten Bürgen. Es geht daher nicht an, nur das als "Recht" gelten zu lassen, was die Mehrheit beschließt. Von seiner Empfängnis an hat der Schwächste das Recht und die Pflicht zu leben, weil Gott ihm das Leben geschenkt hat. Bei der Selbstbestimmung der Vernunft muss es also irgendwo einen "Jenseitsbezug" geben, denn sie kann sich als Freiheit nur dann selbst bestimmen, wenn sie bereit ist, sich als Geschenk einer größeren Freiheit zu verstehen.

die furche: Die multikulturelle Gesellschaft ist längst Alltag, auch in Frankreich - nicht ohne Spannungen ...

Lustiger: Das Zusammenleben von Christentum, Judentum, Islam ist offiziell ganz gut, besser als je zuvor, besonders zwischen Juden und der katholischen Kirche. Wo Antisemitismus auftaucht, ist er ein pathologisches Zeichen für die Gesellschaft.

die furche: Und das Verhältnis zu den Muslimen?

Lustiger: Der Zuwachs des Anteils der Mohammedaner ist sicherlich neu für uns. In Gegenden, wo es muslimische Minderheiten gibt und bereits die zweite Generation in Frankreich geboren ist, hier die Schule besucht hat, wo Sprache und Sitten die selben sind, gibt es ein problemloses Miteinander. Auf der Ebene des Alltagsglaubens läuft es auch meist unkompliziert ab: "Ah Du gehst zum Ramadan, wir haben die Fastenzeit...", heißt es dann.

die furche: Wo treten Spannungen auf?

Lustiger: Wenn es zu politischen Diskussionen kommt, zum Beispiel über die Konflikte zwischen Israel und Palästina. Da kann es zu schrecklichen Dingen kommen. Kompliziert wird es immer dann, wenn Religion, Kultur, Nationalität und Politik in einen Topf geworfen werden. Religion ist nicht getrennt von der Politik, aber man darf sie nicht mit ihr identifizieren. Nicht alle Araber sind schuld am 11. September oder alle Juden an dem, was jetzt im Nahen Osten passiert. Wir sollten differenzieren lernen.

die furche: Welche Art von Friedensarbeit können Christen in Hinblick auf die Vielfalt der Kulturen und Religionen liefern?

Lustiger: Wir stehen hier vor Problemen, die nicht nur Fragen von Immigration und Kultur sind. Einerseits brauchen wir für unser Volk eine Erziehung im friedlichen Zusammenleben. Das braucht aber andererseits auch eine Vertiefung im eigenen Glauben. Ein Christ muss wissen, was er glaubt und warum er glaubt. Ich beobachte, dass politische Probleme oft reduziert werden auf Begriffe wie Aggression, Macht und Unterdrückung. Wenn wir uns nur auf dieser emotionalen Ebene bewegen, haben wir nur geringe Chancen, die Konflikte zu überwinden. Wichtiger ist es, die Leute zum Nachdenken zu bringen, warum man den anderen als Mitmenschen achten soll. Trauen wir uns also die eigentlichen Fragen zu stellen: Wozu lebst du? Was machst du aus deinem Leben? Hat dein Leben einen Sinn? Was bedeutet der andere in deinem Leben? Woran glaubst Du ...?

die furche: Sie gelten als Sympathisant der jungen Bewegungen in der Kirche. Welche Rolle spielen sie Ihrer Meinung nach in deren Entwicklung?

Lustiger: Die neuen Bewegungen gibt es nicht erst seit 20 Jahren. Sie haben schon Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, und sie tragen gemeinsame Kennzeichen: das Apostolat der Laien, den Akzent auf der religiösen Bildung, dem Gebet, der Gemeinschaft, der Nächstenliebe. Wesentlich ist, dass das gewöhnliche Leben, die familiären, beruflichen Pflichten selbst als Weg zu Gott erkannt werden. Diese Charakteristik hat das Zweite Vatikanische Konzil besonders hervorgehoben: eine neue Gestalt des Rufes zur Heiligkeit als ekklesiale Verantwortung der Laien, wobei es da verschiedene Wege und Berufungen gibt. Natürlich gibt es auch hier manche Geburtswehen, Konflikte ... Wenn man es sich aber genauer anschaut, ist das eine bewundernswerte Erscheinung, die Hoffnung gibt.

die furche: Der jetzige Papst gehört zu den am längsten amtierenden der Geschichte. Was scheint Ihnen der wichtigste Punkt seines Pontifikats zu sein?

Lustiger: Das lässt sich schwer zusammenfassen. Ich glaube, er ist der Papst, der die Kirche wieder zu der Erneuerung zurückgeführt hat, die das Zweite Vatikanische Konzil sich gewünscht hatte. Was das Konzil wollte, hat sich erst unter seinem Pontifikat gezeigt. So gesehen stehen wir eigentlich erst am Anfang. Wir erleben die Zuckungen einer Welt, die sich auflöst, die ersten Früchte der Erneuerung lassen sich aber schon sehen.

die furche: Sie haben als junger Mann vom Judentum zum Katholizismus konvertiert, waren später Studentenseelsorger, und haben als Erzbischof das Weltjugendtreffen 1997 in Paris sehr gefördert. Es kamen mehr als eine Million Jugendliche ...

Lustiger: Das war wunderbar!

die furche: ...Ist für Sie die Jugend eine Hoffnung für die Kirche?

Lustiger: Ja, sicher. Die älteren Leute sind oft schon so müde... Die Jugend findet einen neuen Zugang zum Glauben. Davon bin ich überzeugt. Und sie wird uns überleben. Wenn sie keine Hoffnung wären, könnten wir schon alle schlafen gehen!

die furche: Sie bleiben also optimistisch?

Lustiger: Heute wachsen in Ländern mit christlicher Tradition Generationen heran, deren Eltern nicht mehr praktizieren. Im Vergleich zu Amerika hat Frankreich sicherlich noch wenige Erwachsenentaufen - geschweige denn im Vergleich mit Ländern in Afrika und Asien, wo die Kirche stark wächst. Aber wer weiß, welche Überraschungen wir noch erleben werden.

Das Gespräch führte Susanne Kummer

Zur Person

Kardinal Jean-Marie Lustiger wurde 1926 in Paris als Sohn polnischer Juden geboren. Er konvertierte mit 19 Jahren zum katholischen Glauben. 1954 wurde er zum Priester geweiht und war bis 1959 Studentenseelsorger in Paris. Nach 10-jährigem Wirken als Pfarrer wurde er 1979 zum Bischof von Orléans ernannt und trat zwei Jahre später als Erzbischof von Paris die Nachfolge von Kardinal Marty an. 1983 wurde Lustiger der Kardinalstitel verliehen.

Anlass seines Wienbesuches war der Auftakt des "Internationalen Kongresses für eine Neue Evangelisation" am Wiener Stephansplatz. Auf Initiative der Erzbischöfe von Wien, Paris, Brüssel und Lissabon findet in den kommenden Jahren in diesen vier Großstädten eine internationale "Städtemission" als Beitrag zur Verkündigung des Evangeliums in Europa statt. Die erste "Städtemission" wird Ende Mai 2003 in Wien durchgeführt, getragen von der Gemeinschaft Emmanuel und der Katholischen Aktion. Nähere Informationen unter:

www.stadtmission.at

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung