Wieder einmal hält mich der momentane Zustand von Kirche und Glauben in Atem; dieser totale Wildwuchs von Wunschbild und Wirklichkeit, von Hoffnung und Enttäuschung. Und das in belastender Gleichzeitigkeit.
Da sind die 600.000 und mehr begeisterten Jugendlichen, die Papst Franziskus eben erst beim Weltjugendtag in Panama umringt haben. Wer sonst auf dieser Welt mobilisiert einen solchen Sturm des Guten? Niemand.
Und zugleich ist da so viel an Schwäche und Versagen. Nur drei aktuelle Beispiele:
Fall 1: Da steht ein heimischer Bischof und begabter Seelsorger im dringenden Verdacht, er habe es mit Geld und Zölibat nicht sehr genau genommen. Und schon nach den ersten "Visitations"-Gesprächen sagt sein geistlicher "Chef" zwei höchst bemerkenswerte Sätze: "Ich bin innerlich über das Gehörte fast ein bissl erschüttert." Und: "Ich könnte mit solchen Vorwürfen nicht leben."
Und doch hat es viele Jahre gedauert, bis das intern längst bekannte Wissen jetzt das Licht der Öffentlichkeit erreichen konnte.
Fall 2: Da findet das Unheil klerikaler Missbrauchsfälle nahezu täglich neue, globale Schauplätze. Beim Weltjugendtag bringt es der Papst auf den Punkt: Die Kirche sei "durch die Sünde schrecklicher Verbrechen verwundet". Und: "Einige Bischöfe haben das Problem noch immer nicht verstanden!" Jenseits des konkreten Opfer-Leids aber bündelt sich das Drama in der Erkenntnis, wie viele Hierarchen über Jahrzehnte hinweg von den Untaten im Klerus wussten, aber beharrlich geschwiegen haben.
Dünner Firnis von Glauben & Liebe
Zugleich geht -Fall 3 -der besorgte Blick zu den Christen im Osten. Dort ist jetzt buchstäblich der Teufel los. Seit nahezu 350 Jahren war die ukrainische Orthodoxie ein Teil des Moskauer Patriarchats. Jetzt ist sie -als Folge der politischen Umwälzungen -gegen den Willen Russlands und seiner Freunde in die Eigenständigkeit entlassen worden. Die Folge: Geschwisterlichkeit war gestern, Drohung ist heute. Und erschütternd die Erkenntnis, wie dünn der Firnis von Glauben und Liebe im Ernstfall ist.
Einmal mehr finde ich das treffendste Wort zur Lage bei einem geistig Unsterblichen: bei Kardinal Franz König. Nach seinem Tod im März 2004 -bald sind es 15 Jahre -haben seine Büroleiterin Annemarie Fenzl und ich seine Gedanken und Notizen für ein Buchprojekt gesammelt. Und auch diesen Text gefunden: "Musste die Kirche nicht in all den Jahrhunderten froh sein, wenn sie mit Ach und Krach durchschwamm, ihre Blößen deckte, ihre Skandale wieder in Vergessenheit gerieten und ihre Mittelmäßigkeit von den Menschen akzeptiert wurde?" Und weiter: "Die Kirche ist nicht das Reich Gottes -weil ich zu dieser Kirche gehöre und weil du dazu gehörst! Und wir zwei sind noch keine brennenden Menschen, sondern halbe, glimmende, beginnende. Und deswegen ist diese Kirche nur der Beginn des Gottesreiches. Nur ein glimmender Funken."
Heinz Nußbaumer
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