"Die Krücke Neutralität braucht es nicht mehr"

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Am Sonntag, 14. April, feiert Ludwig Steiner seinen 80. Geburtstag. Das furche-Gespräch behandelt wichtige Stationen im Politikerleben des Jubilars: Staatsvertrag, Südtirol-Paket und zum Einstieg Steiners aktuelles Arbeitsgebiet: der Versöhnungsfonds für NS-Zwangsarbeiter.

die furche: Herr Botschafter, Sie waren gerade in Moskau, um die ersten Entschädigungszahlungen an ehemalige russische Zwangsarbeiter vorzunehmen. Wie erlebten Sie diesen Moment?

botschafter ludwig steiner: Wie schon bei früheren Auszahlungen in Slowenien, Ungarn oder Griechenland war auch diese persönliche Überreichung wieder eine sehr eindrucksvolle Feier. Vor allem interessant ist es, mit den Leuten zu reden und von ihren großteils sehr berührenden Erlebnissen zu hören. Immer wieder kommt dabei der Hinweis, dass - nachdem sie in die Sowjetgebiete zurückgekehrt sind - sie erneut filtriert und überprüft und zum Teil weiterhin in Lager gehalten wurden. Vor allem die Metallarbeiter hat man für weitere zehn, fünfzehn Jahre nach Sibirien geschickt.

die furche: Mit welcher Begründung?

steiner: Der Vorwurf seitens der Kommunisten lautete, dass die Zwangsarbeiter mit ihrer Arbeit dem Feind der Sowjetunion während des Vaterländischen Krieges geholfen hätten. Einer der russischen Betroffenen hat mir gesagt, wie wertvoll es für sie sei, dass jetzt auch ihr Leiden anerkannt werde. Offenkundig ist diese Geste Österreichs das erste Mal, dass man dieser Leute und ihrer Qualen gedenkt.

die furche: Würden Sie das österreichische Modell der Entschädigungsleistungen auch als tschechische Wiedergutmachungsgeste für die BenesÇ-Dekrete empfehlen?

steiner: Ich bin vorsichtig mit guten Ratschlägen und froh, wenn wir unser Modell gut zu Ende bringen. Aber selbstverständlich kann unser Vorgehen ein gutes Beispiel sein. Natürlich sind die Verhältnisse in jedem Fall andere, doch die Grundzüge kann man sehr wohl beispielhaft nennen. Entscheidend ist doch, dass man jetzt nach Jahrzehnten eine Geste des Verstehens für die Leiden dieser Menschen setzt. Das hat ja nicht nur Bedeutung für die Betroffenen, sondern es ist auch für unser eigenes politisches Selbstverständnis wichtig.

Das Werben um Verständnis in der Bevölkerung sollte man dabei nicht vergessen. Unsere Aufgabe im Versöhnungsfonds ist es daher auch, zu zeigen, dass man nicht nur Geld verstreut, sondern, dass man sieht, es war wichtig und gut, so gehandelt zu haben.

die furche: Wir wechseln das Thema, bleiben aber in Moskau: Vor bald fünfzig Jahren waren Sie zu Staatsvertragsverhandlungen im Kreml. Die damals ausverhandelte Neutralität hat für viele heute ihre Berechtigung verloren. Wie sehen Sie das?

steiner: Ganz klar, heute ist die Situation eine völlig andere. Die Neutralität war 1955 zweifellos das Instrumentarium zur Erlangung unserer Unabhängigkeit und auch darüber hinaus hat sie sehr wichtige Funktionen für unser Land gehabt. Doch heute ist die Neutralität von 1955 sicher nicht mehr aktuell. Auch für unser Selbstbewusstsein und unser staatliches Selbstverständnis ist sie nicht mehr notwendig. Die österreichische Unabhängigkeit ist derartig undiskutiert, und die Bevölkerung steht mit einer solchen Selbstverständlichkeit dazu, dass es nicht mehr die Krücke Neutralität braucht. Das ist heute keine Frage mehr und spiegelt ja nur eine gesunde Entwicklung wider.

die furche: Wenn wir schon ohne die Krücke Neutralität auskommen, wozu brauchen wir dann noch Abfangjäger, um eben diese zu schützen?

steiner: Es geht hier um die Grundüberlegungen: Will man eine Verteidigung haben, will man einen Verteidigungsbeitrag leisten? Und selbstverständlich braucht man als neutraler Staat eine Verteidigung und wenn man in einem Paktsystem oder in einer europäischen Zusammenarbeit steht, muss man auch einen Beitrag für die Verteidigung des Gesamten leisten.

die furche: Und Österreichs Beitrag sollen Abfangjäger sein?

steiner: Vergessen Sie nicht: Jemand, der sich selber aufgibt, der ist eben aufgegeben. Auch in der Politik gibt es eine Art Grundgesetze wie in der Physik: Derjenige, der Schwäche zeigt, wird von anderen übernommen. Dort, wo ein Vakuum entsteht, dringt eine andere Kraft ein. In der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, dass Schwäche provoziert. Eine Verteidigungskraft muss nicht nur darin bestehen, dass man militärisches Material hat, sondern dass man auch sichtbar macht, dass man verteidigungswillig ist.

die furche: Das leitet über zu einem anderen Thema, das Sie fast ihr ganzes politisches Leben lang beschäftigt hat: die Südtirol-Frage. Teilen Sie die Befürchtungen, dass sich die Regierungsübernahme Berlusconis negativ auf die Autonomie Südtirols auswirkt?

steiner: Bei jedem Regierungswechsel in Italien soll man aufmerksam sein und rechtzeitig auf die Positionen, die man mühselig errungen hat, hinweisen. Doch ein anderes, drängenderes Problem tut sich hier auf: Mittlerweile wird von bestimmten Kreisen in Südtirol selber der ethnische Proporz in Frage gestellt. Im Zusammenhang mit dem Sprachgruppenbekenntnis hat sich eine Gruppe an die Europäische Union gewandt, die behauptet, diese Feststellung widerspreche dem Datenschutzgesetz. Dabei ist es doch keineswegs so, dass der ethnische Proporz ein alleiniger Vorteil für die Südtiroler ist. Gerade für die Italiener und für die Ladiner, die in Südtirol die Minderheit stellen, ist es entscheidend, dass der ethnische Proporz bei den Stellenbesetzungen eingehalten wird. Das ist kein Gnadenakt für die Südtiroler, sondern eine Notwendigkeit für die anderen Sprachgruppen.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich doch herausgestellt, dass der ethnische Proporz ein wichtiges Element ist, um ein faires Zusammenleben zu ermöglichen. Deswegen sind diese illusionistischen Versuche, man müsse jetzt alle - auch die positiven - Schranken einreißen, strikt abzulehnen.

die furche: Sie haben die längste Zeit ihres Politikerlebens in der derzeit viel gescholtenen Konsensdemokratie verbracht. Jetzt soll mit der Konfliktdemokratie alles besser werden. Welches Modell halten sie für das Effizientere?

steiner: Es ist weder die eine noch die andere Seite der Weisheit letzter Schluss. Es gibt diese und jene Phasen und mit der Zeit degeneriert jedes dieser Modelle. Es ist schon gut und richtig, dass man in schwierigen Bereichen Kompromisse sucht und findet. Wird das jedoch übertrieben, kommt man überhaupt zu keinen klaren Entscheidungen mehr. Auf der anderen Seite ist es so, dass beim Konfliktmodell natürlich einige Sachen auszustreiten sind, aber ein Dauerkonflikt ebenso zu nichts führt. Kurz gesagt: Das extreme Ausleben des einen oder anderen dieser Modelle ist immer schlecht.

die furche: Zählen Sie zu den Extremen auch die Mobilisierung der Straße?

steiner: Die Mobilisierung der Straße ist ein sehr zweischneidiges Schwert. Mit der Mobilisierung der Straße haben wir in der Zwischenkriegszeit äußerst schlechte Erfahrungen gemacht. Die Leute haben sich nur noch mehr in ihren unversöhnlichen Lagern einzementiert, anstatt dass man versucht hätte, die parlamentarischen Instrumentarien zu nutzen. Das mag den Organisatoren damals wie heute Freude bereiten, aber für die politische Entwicklung ist das nicht erfreulich und auch nicht erfolgsversprechend. Es zeigt sich doch stets aufs Neue, wie wenig solche Dinge nützen. Am meisten nützt eben immer noch der Stimmzettel.

die furche: Seit Ihrer Vorsitzführung in den Lucona- und Noricum-Untersuchungsausschüssen gelten Sie als Meister in diesem Metier. Was raten Sie den Kollegen in Kärnten, die mit viel Weh und Ach einen Untersuchungsausschuss zu den Irak-Reisen ihres Landeshauptmanns bestreiten?

steiner: Untersuchungsausschüsse sollten keinesfalls Instrumentarien für parteipolitische Aktivitäten sein und auch keine publizistische Menschenhatz ermöglichen. Hier sind wirklich ausschließlich Fehlhaltungen in der Administration und in der Ausübung der politischen Macht aufzuzeigen.

Diese spürbare Angst der einen oder anderen Seite vor Untersuchungsausschüssen ist für mich schwer verständlich. Jede Seite sollte doch froh sein, dass Klarheit geschaffen wird. Auch oder gerade wenn Fehler gemacht wurden, muss jede Seite einsehen, dass diese Fehler zu bereinigen sind. Die Untersuchungsausschüsse seinerzeit haben doch einiges in den Strukturen der betroffenen Ministerien bewirkt. Nach jedem Untersuchungsausschuss sind Disziplinarverfahren eingeleitet worden oder Gerichtsverfahren, oder es wurden gesetzliche Regelungen eingeführt, die Fehlerquellen ausschalten. Und das wird auch in diesem Fall wahrscheinlich nicht anders sein.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

Zur Person: "Ein Stück lebende Zeitgeschichte"

Als "ein Stück lebende Zeitgeschichte" würdigte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel Jubilar Ludwig Steiner anlässlich einer Feierstunde im Parlament. Dass der Kanzler nicht übertrieben hat, davon durfte sich die furche bei einem mehrstündigen Gespräch mit Steiner selbst überzeugen.

Zu Kriegsende gelang es dem Innsbrucker Bäckersohn gemeinsam mit anderen Mitstreitern im Widerstand, das deutsche Kommando in Tirol außer Gefecht zu setzen. Damit konnte ein Bombardement Innsbrucks verhindert werden. 1948 trat der Doktor für Wirtschaftswissenschaften in den diplomatischen Dienst ein. Von 1953 bis 1958 war er Sekretär von Bundeskanzler Julius Raab und nahm in dieser Funktion unter anderem auch an den Staatsvertragsverhandlungen 1955 in Moskau teil. Staatssekretär im Außenministerium und Botschafter in Griechenland und Zypern waren weitere Berufsabschnitte.

Als Abgeordneter im Nationalrat wurde Steiner durch seinen Vorsitz in den Untersuchungsausschüssen zur Lucona- und Noricum-Affäre bekannt, nicht zu vergessen sein Engagement für Südtirol, wo er nach wie vor schlicht "der Botschafter" genannt wird. Auf die Kanzler-Anfrage, den Vorsitz im Versöhnungsfonds für NS-Zwangsarbeiter zu übernehmen, antwortete Steiner: "Selbstverständlich!"

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