Die Lehren aus Der revoLte

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Ungarns Gedenken an 1956 sollte die Gesellschaft eigentlich einen. Doch die Feindschaften blühen weiter. Eine historische Reportage.

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Ungarns Gedenken an 1956 sollte die Gesellschaft eigentlich einen. Doch die Feindschaften blühen weiter. Eine historische Reportage.

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Advent und Weihnachten waren abgrundtief finster und kalt - 1956 in Ungarn. Der Volksaufstand war soeben niedergeschlagen, Truppen der Sowjetunion und ein Marionettenregime begannen einen Krieg gegen das Land und seine Bürger. Die Ungarn wehrten sich und unterlagen. Was bedeutet dies alles für heute? In einer kommunistisch-atheistischen Diktatur aufzuwachsen -wie es auch mir geschah - hieß, uneinholbar Wichtiges konnte man weder aneignen noch erwerben, jedoch einzig und allein ein Gespür dafür entwickeln, was einen Menschen zum Objekt erniedrigt. Aber reicht das zum Leben?

Nach Jahrzehnten erbarmungsloser, allmählich nüchterner Auseinandersetzung steht mehrheitlich fest, dass es 1956 dem Volk um Unabhängigkeit, Freiheit und Demokratie ging. Denn man wollte nicht schon wieder fremdbestimmt von oben beherrscht bleiben.

Ein Rückblick

Es begann friedlich: Jung und Alt, Studenten, Arbeiter, Lehrlinge, Intellektuelle, Städter und Landbewohner begannen der weithin verhassten Führung der kommunistischen Staatspartei Reformen abzuringen. Für die Machthaber galten die Aufständischen als Chauvinisten, Nationalisten, Antidemokraten, Faschisten sowieso, als Volks-,Klassen-und Staatsfeinde, Antisemiten und Mob, je nachdem. (Derzeit versieht die linke Opposition die Regierungsparteien immer noch mit diesen Etiketten.) Wie ein Lauffeuer hat sich der Protest zum Volksaufstand entwickelt, denn das Menschenbild der leninistisch-stalinistischen Ideologie und ihr Programm vom neuen Menschen wurden gleich auch mitbekämpft. Aus dem Diktat dieser Ideologie wollten auch die Ungarn ausbrechen, eben um zu Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie zu gelangen.

Die Antwort der Machthaber: landesweit wurde kaltblütig und wahllos in die unbewaffnete Menge geschossen, auffallend oft in die Rücken der Opfer. Hunderte von Toten waren zu beklagen, darunter Frauen, Minderjährige und Kinder. Die Befehlskette der über 80 kollektiven Tötungsorgien sind bis heute nicht ausreichend geklärt. Rein rechtlich konnte das Morden auch von regionalen KP-Sekretären ausgegangen sein, denn solche Aktionen galten in der Ideologie der KP als "erzieherische Maßnahmen". Der Kampf brach landesweit aus.

Janusköpfig reagierte der Politiker der Stunde, János Kádár, Mitglied und bald Chef der ungarischen Sozialisten. Öffentlich bezeichnet er die Ereignisse als "ruhmreiche Revolution", am gleichen Tag in Moskau aber denunzierte er sie als "Konterrevolution". Eine neue Regierung wurde eingesetzt, natürlich mit ihm als Ministerpräsidenten: Die Kádár-Ära dauerte nicht nur bis 1988, sondern wirkt mental bis heute nach. Eine militärische Großinvasion der Roten Armee setzte ein, die bewaffneten Kämpfe dauerten vereinzelt bis in den Dezember. Die noch verbliebenen Gruppen der Aufständischen wurden von der Bevölkerung weiter mit Lebensmitteln versorgt. Die wahren Helden und Leitfiguren des Freiheitskampfes waren nicht die Politiker, sondern die einfachen Menschen in den Städten und auf dem Land, moralisch erfolgreich durch ihre Selbstorganisation. Das Schicksal des Freiheitskampfes war rasch besiegelt, die Kommunistische Partei wurde in Sozialistische Partei umbenannt, die Ideologie blieb dieselbe.

Die Faust der leninistisch-stalinistischen Ideologie zermalmte physisch und mental alles, was ihrem Erfolg im Wege stand. Die Vergeltungsmaßnahmen -für den offiziell als Konterrevolution verurteilten Volksaufstand - richteten sich gegen sogenannte Volksund Staatsfeinde, darunter Arbeiter ebenso wie Bauern, die längst samt ihren Feldern in Genossenschaften gezwungen worden waren, gegen nonkonformistische Schriftsteller und Künstler. Es hagelte Todesurteile, das Spitzel-und Denunziantentum, das Blockwartsystem und Mitläufertum erblühte neu, bis in die Kindergärten hinein.

Die nackten Zahlen: fast 3000 Tote, 20.000 Verletzte, über 30.000 Gerichtsverfahren und Schauprozesse, 25.000 Haftstrafen, Straflager, Verschleppung in die Sowjetunion, Zwangsumsiedlungen, 280.000 Menschen auf der Flucht und eine beispiellose Welle der Solidarität. Sippenhaftung pur vervielfacht die Opfer bis ins heute: damals wurde bloß Farbe und Firmenschild der Methode gewechselt. Was blieb, sind tiefe persönliche und kollektive Wunden in der ungarischen Gesellschaft, die weitervererbt werden.

Werte wie Solidarität, gegenseitige Wertschätzung und Vertrauen wurden fast ausgelöscht. Heute werden sie Schritt für Schritt neu gesucht und belebt. Es ist kein Zufall, dass die zersplitterten Nachfolger der damaligen Staatspartei heute erhebliche Schwierigkeiten haben, diese Zeiten zu verarbeiten: Sie scheinen sich in Theorie und Praxis nicht von ihren leninistischen Wurzeln distanzieren zu wollen und zu können.

Eine sich widersprechende Sozialisation einerseits durch Staat und Schule, anderseits durch Familie bewirkte ein doppeltes Bewusstsein, hier öffentlich konforme Meinung, da eigene Ansicht im Verborgenen. Die Diskursfähigkeit wurde abgeblockt: Es gab grundsätzlich nur entweder richtig oder falsch, Recht oder Unrecht, man lernte Ja zu sagen, aber etwas Anderes zu tun. Konstruktive Dialoge? Fehlanzeige. Sie wurden jahrzehntelang, weil staatsgefährdend, im Keim erstickt. Gezielte Infantilisierung und erzwungene Unmündigkeit haben bewirkt, dass Fähigkeiten und Tugenden, die eine Demokratie benötigt, fast drei Generationen hindurch nicht erlernt werden konnten. Der Gesellschaftsvertrag war einseitig von oben: Ihr Bürger habt Essen und Kleidung, dafür kümmert ihr euch nicht um die Politik. Wie lange aber kann man in Tränen lachen, noch dazu auf Befehl? Gänzlich erloschen war die Hoffnung nach Selbstbestimmung und Eigenverantwortung in diesen 60 Jahren nie. Ein Wunder?

Die Schritte, der Weg

Der Grundton der 60-Jahre-Feier 2016 entfaltet sich zu Akkorden: Helden und Märtyrer der Revolution sind zu ehren und zu bedanken, die Selbstachtung der Gesellschaft sei neu aufzubauen, statt diese weiter zu spalten, und eine Gesprächsbasis sei zu schaffen, die auch überparteilich trägt. Bezeichnenderweise nahmen die Sozialisten an der Festsitzung des Parlaments mit hohen Festrednern, Politikern und Diplomaten aus Polen und Deutschland, nicht teil. Die junge Generation aber zeigt offen ihre Betroffenheit über die einstigen Brutalitäten und Achtung vor den physischen und psychischen Opfern von Generationen. Und zeigt auch Stolz, ihr eigenes, autonomes Gerechtigkeitsgefühl rührt sich: Es wird jetzt viel mutiger die eigene Meinung vertreten. Was in diesen schmerzlichen 60 Jahren vorgefallen war und versäumt worden ist, wird viel klarer im Pro und Kontra angesprochen.

Zivile Initiativen fassen bereits Fuß, das Gespür für Grundsätzliches und auch für den eigenen Selbstwert lebt wieder auf. Handlungsfähigkeit und Kreativität regen sich neu, bitter erlernte Kulturtechniken, etwa mit verdünntem Wasser gut kochen zu können, erweisen sich als goldrichtig. Alte Werte, durch die kollektive Erfahrung des Leidens gereift, bewähren sich neu. (Soll das jetzt alles wieder vom neuen Konsumterror ausgelöscht werden?)

Ohne Dialog wird es nicht gehen, nur scheint er zwischen den politischen Gruppen im Land derzeit nur ansatzweise möglich. Kann und wird eine neue Generation heranwachsen, die fähig ist, ohne Aufrechnen alter Fehler eine Basis für ein Miteinander zu leben oder wird sie bloß erneut instrumentalisiert? Noch fehlt es an der Kultur des Dialogs trotz unterschiedlicher Ansichten: Es ist auch eine Frage der Sozialisation. Völlig zurecht wünschen sich die Ungarn, dass Europa mit Neugier auf sie blicken möge, auch um ihre Realität und Erfahrung mit der Geschichte besser zu akzeptieren und zu verstehen. Ein Großteil der Ungarn lebte gut 40 Jahre im eigenen Land in innerer Emigration. Wunden von Generationen sind nur teils verheilt, die Narben zeigen Werte an, ohne Scheu. So sprechen wir Ungarn in der EU eben zu Recht mit unserem Akzent, wie auch alle Europäer mit ihrer je eigenen Färbung sprechen. Ein Dialog auf Augenhöhe statt mit doppelten Standards wäre nicht nur nötig, sondern auch möglich. Er täte auch Europa gut.

In Budapest gibt es ein "Haus des Terrors", in dem sich hinter dem Eingang die Wege teilen, zum braunen Terror einerseits und zum roten Terror andrerseits, der Ausgang ist wieder derselbe. Ungarn hat beide überlebt. Es hat viel Blut gekostet, sehr viel Blut, auch seelisch. Beim Dialog der westlichen Länder mit den Reformstaaten gilt es, Vieles neu zu entdecken und auch voneinander zu lernen. Wieder ein Wunder? Und 60 Jahre sind vergangen wie ein Tag. Frohe Weihnachten, uns allen.

Der Autor ist Mag. theol., wurde in Ungarn geboren, erhielt Asyl in Österreich. Lehrtätigkeit für das Fach audiovisuelle Medien in Wien, Budapest und München.|

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