"Die Lerche direlieret"

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Was die Christen von den Vögeln des Himmels lernen können. Ein Denkanstoß aus der Bergpredigt.

"Ich war bereits einmal Knabe, Mädchen, Pflanze, ein Fisch und ein Vogel und ein stummer Seefisch."

Empedokles

Und was, bitte, haben die Christen von den Vögeln des Himmels gelernt?"

Ich war mir sicher, dass die Anwesenden beschämt gestehen würden, dass sie bisher kaum darauf bedacht waren, in diesem Punkt von der Bergpredigt zu lernen. Da rief eine Frau in den Vortragssaal: "Singen!" Die Erleichterung war allgemein.

Singen denn die Vögel früh am Morgen und kurz vor Einbruch der Nacht nicht ohne alles Warum? "Die Amsel schlägt / Die Finke pinkt / Die Lerche direlieret / Der Zeisig und der Stieglitz singt / Und alles musizieret." Mit dieser Schalmei hatte Angelus Silesius den Christenmenschen vorgeführt, was vom Singsang der Vögel zu lernen wäre. Ihr Trillern und ihr munteres Pfeifen nehme das Himmelreich vorweg und lehre uns deshalb nichts weniger als die Kunst, nach den Seligpreisungen glücklich zu leben: "Nun, dieses ist die Seligkeit! ... Die arm im Geiste sind... / Die alles mit Be-scheidenheit / Regieren und verwalten / ... Die nicht nach Ansehen / Lieb und Leid / Für ihren Hunger fragen ... / Die ihres Nächsten Herzeleid / Aufnehmen mit Erbarmen ... / Die sich des Friedens früh und spat / Aus Herzens Grund befleißen / Die wird man ... Gottes Kinder heißen."

Wie heute fröhlich sein?

Wir wissen nicht, wie wir jetzt noch fröhlich sein sollen. Das Wachstum der inneren psychischen Nöte und das Erschrecken über die weltpolitische Verdüsterung, die Zunahme der sozialen Ängste und das diffuse Gefühl, hilflos einer wirtschaftlichen Depression ausgeliefert zu sein, lasten über der Landschaft der Seelen.

Zukunft endloser Sorgen?

Innerhalb weniger Monate scheint sich das etwas lebenslustiger gewordene Zeitalter in eine Zukunft von endlosen Sorgen verwandelt zu haben. Schon als Kinder seien wir eine ökonomische Belastung gewesen, erfahren wir nun, und als Arbeitende würden wir viel zu wenig Rentenbeiträge leisten, als Kranke schadeten wir den Versicherungen und als Rentner verzehrten wir das Volksvermögen. Schlimmer noch. Als Menschen seien wir einfach umweltschädlich: ökonomisch, ökologisch und politisch eine Katastrophe. Das Lied der Gegenwart besteht wahrlich nicht im munteren Vogelgezwitscher, eher gleicht es Johann Sebastian Bachs Kantate "Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen". Dreimal seufzt zu Beginn schon das betrübte Ich nichts als Ich... Ich... Ich... Und dann dreht sich das Mühlrad von viel Bekümmernis endlos in allen Tonstufen, allen Stimmen und allen Rhythmen. Seltsam mutet nur an, dass mitten in diesem Endlos-Klagen ganz plötzlich völlige Stille eintritt, einen Atemzug lang - da ist nichts zu hören als ein streng durchgeführter Takt, der in einem einzigen Hauch nur dieses eine singt: "Aber." Dieses Aber befreit die Stimmen und wirft sie in einen Raum einer glücklichen Fuge, welche wie im Fluge die Seele erquickt.

Außer einigen schrägen Vögeln wissen alle, dass die komplexen Probleme der Sozialversicherungen und der Gesundheitsfürsorge ebenso wenig wie die Dringlichkeiten der Friedenspolitik durch die Imitation von Singvögeln zu lösen sind. Die Bergpredigt aber empfiehlt, das Glück des Daseins aus der Art und Weise zu lernen, wie die Vögel sich ernähren. Ganz offensichtlich war der Menschensohn aus Galiläa davon berührt, dass die lustigen Gesellen der Luft ohne Geld auskommen und nicht um den Mammon herumfliegen.

Dazu kommt, dass bei den Vögeln alle - nicht nur Christen - gratis in die Schule gehen können. Allerdings beginnt der Unterricht recht früh, lange bevor die Sonne aufgeht. Offenbar fangen die Vögel mit jedem neuen Tag etwas Neues an: Sie singen nicht immer nur aus ökonomischen Gründen. Dann fliegen sie zu zweit durch die Luft, als wäre das weit gespannte Zusammensein schon Sinn des Daseins genug. Sie holen sich keck und fleißig, was in den Schnabel passt. Ihnen scheint es sonnenklar, dass sie den Überfluss der Natur reichlich verdient haben. Einige Vogelarten singen sich dazu noch ein Weibchen herbei und andere wieder singen Eindringlinge aus dem Revier. Fast alle bauen Luftschlösser, praktische und so faszinierend kühne, dass zumindest Architekten sich eingestehen könnten, dass sie von Vögeln noch einiges zu lernen haben.

Genügsame Raben

Was den Menschensohn jedoch am meisten faszinierte, war offenbar die Art und Weise, wie die Raben und wie die andern Vögel mit Besitz, mit Nahrung und mit der Zeit umgehen. Sie leben in der Gegenwart, weil ihnen offenbar das tägliche Brot genügt. Es ist, wie wenn sie noch von der Schönheit leben könnten, ohne Angst zum Tode.

Die Griechen und die Römer wussten, warum sie die Vögel als Lehrmeister auf dem Weg zur Glückseligkeit verehrten. Die Vögel, so erzählte ihr Mythos, wurden von Orpheus höchstpersönlich in Gesang unterrichtet. Als der singende Göttersohn, als Orpheus in das Reich des Todes eingedrungen war, um seine verstorbene Geliebte hinaufzuführen, da schaute er zu früh zurück, weil er ohne Anblick von Eurydike nicht mehr sein konnte.

Christus als Orpheus

Sie entglitt ihm. In namenloser Trauer spielte Orpheus nun den Vögeln des Himmels und den Tieren des Waldes die Leier. So lernten sie von ihm den Gesang, der zur Auferstehung von den Toten, zur Klage über das Verlorene und zum Ausdruck neuer Lebenszuversicht geworden war.

Die alte Kirche hat Orpheus mit Christus identifiziert. Christus mache, so Eusebius, aus unserem eigenen Körpern ein Instrument für die Musik der Auferstehung. So wären wir denn in christlicher Sicht selber Vögel, die im Baum des Lebens nisten und jeden Tag aufs Neue den Gesang anstimmen, der den Tod besiegt.

Wir haben viel Bekümmernis. Aber - die Vögel lehren uns, wie die Sorge um das Dasein von selbst verfliegt.

Der Autor ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Paderborn.

Obiger Text wurde erstmals in der

Zeitschrift "Christ in der Gegenwart" veröffentlicht.

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