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Die Lust als Maß genommen

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Denn in diesem Entwurf für einen „Herdenbrief' artikuliert sich nur eine Gruppe, die Plattform „Wir sind Kirche". Beide Bezeichnungen kennzeichnen deren überzogenen Anspruch, für das Gros der Gläubigen zu sprechen - zu Unrecht trotz der 500.000 Unterschriften des „Kirchenvolksbegehrens".

All jene, die gewohnt sind, sich an den Worten der Heiligen Schrift auszurichten, werden sich mit dem Papier schwertun. Man wird nämlich aus der Schrift kaum das herauslesen können, was im „Herdenbrief' gefordert wird: die Sanktionierung vorehelicher und gleichgeschlechtlicher Beziehungen, der Wiederverheiratung Geschiedener, der Frauenordination...

All das forderte schon das Kirchenvolksbegehren. Aber ist es aufgrund des neuen Papiers klarer geworden, warum die Kirche von einer 2.000 Jahre alten Lehre und Praxis abgehen sollte? Werden die ausführlichen, gut argumentierenden Lehrschreiben der Päpste schlüssig widerlegt?

Keineswegs. Auf all das wird nicht eingegangen, sondern mit reiri weltlichen Kategorien argumentiert. Einige

Stellen aus der Heiligen Schrift (ich habe sechs gezählt) dienen als Argumentationshilfen für eine vorgefaßte Meinung.

Es zahlt sich aus, das Papier genau zu lesen. Es macht nämlich deutlich, woran der Dialog in der Kirche in eigentlich krankt: an der mangelnden, gemeinsamen Basis für ein fruchtbringendes Gespräch. Auf welcher Basis aber ruht der „Herdenbrief'? In These 1 werden Eros und Sexualität (als „in sich gute" Grundkräfte) verabsolutiert (Würden die Autoren dieselbe Argumentation übrigens für die Grundkraft Aggressivität schätzen?) Was für die Situation vor dem Sündenfall zutrifft, wird kurzerhand auf die Situation danach übertragen. Daß seither alles in die Zweideutigkeit geraten ist, geeignet zum Guten wie zum Bösen, wird einfach übergangen.

Zweiter Einwand: Die Begriffe werden nicht definiert. Das hat schwerwiegende Folgen. Denn unter Sexualität versteht der Weltkatechismus, die Tatsache, daß Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat. \Ver dasselbe Wort für eine nicht näher definierte „Grundkraft" verwendet, verwirrt den vielgepriesenen Dialog.

Begriffsunschärfe ist typisch für das gesamte Papier, besonders auffallend an der Art, wie mit dem Wort Liebe umgegangen wird. Da heißt es etwa: „Wir halten es vorerst gar nicht für notwendig, wenn nicht sogar für schädlich, alles zu bewerten. Es ist — ob es uns gefällt oder nicht -, was es ist

die geglückte Ehe ebenso wie die mißglückte, die andersgeschlechtliche Liebe ebenso wie die gleichgeschlechtliche, die eheliche Liebe ebenso wie die vor-, außer- und uneheliche Liebe, die kirchlich erlaubte Liebe der Ehepartner ebenso wie die kirchlich verbotene der Priester oder anderer frei- oder unfreiwilliger Singles."

Alles so zu nehmen, wie es ist, lautet die Parole im Herdenbrief. Ein zweifelhaftes Programm, für das Christus nicht hätte sterben müssen. Aber auf etwas anderes sei die Aufmerksamkeit gelenkt: Können die Autoren des Briefes unter Liebe dasselbe verstehen wie der Apostel Paulus im Hohelied (IKor 13)? Was soll man unter „kirchlich verbotener Liebe der Priester'Verstehen? Kann man die Aussage aus dem ersten Johannesbrief „Gott ist die Liebe" in irgendeiner sinnvollen Form hier einbringen? Und die „gleichgeschlechtliche Liebe": Damit ist doch kaum die Beziehung von Vater und Sohn gemeint! Offensichtlich macht dieser Abschnitt nur Sinn, wenn ich für „Liebe" Geschlechtsverkehr einsetze. Diese und

ähnliche Stellen kennzeichnen den „Herdenbrief" am besten: Mit wohlklingenden Worten wird versucht, die Ergebnisse der modernen Sexualforschung in der Kirche salonfähig zu machen. Diese Forschung basiert allerdings auf einem nicht-christlichen Menschenbild, in dem Triebe und deren Befriedigung zur Vermeidung von Verdrängungen das Entscheidende sind.

Gut, man kann den Menschen so sehen. Man kann aus dieser Sicht auch Verhaltensregeln ableiten. Wer heute mit offenen Augen durch die Welt geht, müßte allerdings erkennen, daß die Rezepte den Menschen nicht glücklich machen: Zerbrochene Ehen, nach Scheidungen unglückliche Kinder, zunehmende Häufigkeit von Geschlechtskrankheiten, Aids, das Bild der Frau auf Busen und Po reduziert, all das ist nicht unbedingt eine Empfehlung. Aber die Generation, die sich der sexuellen Revolution verschrieben hat, will nicht zur Kenntnis nehmen, daß ihr Heilsweg in die Irre führt. So wird dialogisiert und dialogisiert, obwohl die aufgeworfenen Fragen längst

kompetent beantwortet sind.

Nur eines bitte: Verkauft uns dieses gescheiterte Glückskonzept nicht mit sprachlichen Tricks als Willen Gottes, als zeitgemäße Lehre der Kirche! Langsam beginnt sich ja ein zaghafte Umkehr zu Werten wie Enthaltsamkeit und Verzicht unter den Jugendlichen abzuzeichnen. Diese kommen zu Hunderttausenden, um sich vom Papst neue (alte) Wege weisen zu lassen. Ist es da nicht an der Zeit, das antiquierte Rezept von der sexuellen Befreiung an den Nagel zu hängen?

Und noch etwas: Die Plattform mahnt die Hirten, „die Fragen der Sexualmoral nicht als zentrale Fragen des christlichen Glaubens zu sehen". Das ist eine der wenigen Forderungen, mit denen ich mich identifizieren kann. Vielleicht könnte sich die Plattform diese Aufforderung einmal selbst zu Herzen nehmen" und darauf verzichten, immer wieder auf dem Thema Nr. 1 herumzureiten. Die Welt erwartet, daß die Kirche von Jesus Christus spricht. Nach seinem Namen sucht man allerdings im Text vergebens.

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