Die Macht der Tradition

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Der Abschied vom Anderl-von-Rinn-Kult fällt schwer. Eine Studie zeichnet den mühsamen Prozeß nach.

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Der Abschied vom Anderl-von-Rinn-Kult fällt schwer. Eine Studie zeichnet den mühsamen Prozeß nach.

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Der theologische Grund für die Abschaffung des Anderl-von-Rinn-Kultes in Tirol ist die Entwicklung in der Beziehung zwischen katholischer Kirche und dem Judentum seit dem II. Vatikanum und der Wiener Diözesansynode 1972. Ein mühsamer und mehrschichtiger Prozeß, der in Bernhard Fresachers Buch "Anderl von Rinn Ritualmordkult und Neuorientierung in Judenstein 1945-1995" aufgearbeitet und systematisch dargestellt wird.

Zehn Kilometer südöstlich von Innsbruck steht im Weiler Judenstein der Gemeinde Rinn jene barocke Wallfahrtskirche, die dem historisch kaum faßbaren Anderl von Rinn gewidmet war. Daran knüpft sich die antisemitische Ritualmordlegende, die vom Stiftsarzt Hippolyt Guarinoni um 1622 in barocker Phantasie zusammenkomponiert wurde. Die Legende war - leider mit kirchlicher Förderung durch die nahen Prämonstratenser von Wilten - gut genug, um eine Wallfahrtstradition und profitbringenden Tourismus aufzubauen. Dieser Anderl-Kult wurde seit 1954 stufenweise eingeschränkt und schließlich nach langwierigen, harten und oft emotionsgeladenen Verhandlungen vom Diözesanbischof Reinhold Stecher 1985/1994 verboten.

Anderle-Anhänger behaupten immer wieder, Papst Benedikt XIV. habe Anderl von Rinn seliggesprochen. Das ist unwahr. Es wurde 1753 nach langwierigen Verhandlungen und Schwierigkeiten der Kult gestattet, ein Meßofficium und Breviertext, beschränkt auf die Diözese Brixen, approbiert. Der spätere Versuch des damaligen Abtes von Wilten, über Vermittlung Generalprokurators seines Ordens in Rom, N. Meyer, nachträglich eine reguläre Seligsprechung beim selben Papst im Jahr 1755 zu erreichen, wurde von diesem energisch abgelehnt. Briefe, die das belegen, befinden sich im Wiltener Stiftsarchiv. Benedikt wußte ja um den Mangel an tragfähigen Quellen, den selbst der Prämonstratenser A. Kembter in seiner Sammlung aller Kultbelege (meist Guarinoni-Legenden) 1745 bedauernd zugab. Der Versuch des Wiltener Abtes wird im entsprechenden Abschnitt in Fresachers Studie (S. 20) nicht erwähnt.

Nach jahrelangem Drängen und provisorischen Verboten kam es erst am 2. Juli 1994 zum kirchenrechtlich gültigen "Dekret zur Beendigung des Kultes des ,Seligen Anderle von Rinn'", veröffentlicht im Verordnungsblatt der Diözese Innsbruck vom 15. Juli 1994. Darin beruft sich Bischof Reinhold Stecher erstaunlicherweise auf ein erwiesenermaßen gar nicht existierendes kuriales Dekret, mit dem Papst Johannes XXIII. am 5. Mai 1961 die Sistierung des Anderl-Kultes verfügt habe. Dabei handelt es sich in Wahrheit um einen vom damaligen Wiltner Abt Alois Stöger als "römische Bulle" hochgeschwindelten erbetenen Brief des Prämonstratenser-Generalabtes Noots aus Rom vom 5. Mai 1961 (in Fresachers Buch S. 41 ff undS. 73). Eigentliche Rechtsgrundlage für die Kultaufhebung durch den Bischof wäre das Rescriptum der vatikanischen Ritenkongregation vom 6. April 1954 an Bischof Paul Rusch. Darin erhielt Rusch die Erlaubnis zur Einschränkung oder Abschaffung des Festes und Kultes nach seinem Dafürhalten gegeben. Sonst gibt es kein Anderl-Kultverbot durch die römische Kurie. Bischof Rusch hat den Anderlkult stark eingeschränkt, aber er war antijüdisch gesinnt und wollte die Beweislast auf die Beschuldigten umkehren, das heißt, Juden hätten die Ungeschichtlichkeit von Ritualmorden nachweisen sollen (S. 57). Es bleibt die brennende Frage: Warum wurde die Kulterlaubnis von 1753/55 bis heute nicht seitens der römischen Kurie offiziell revidiert? (S. 149).

Viel bedauerlicher und folgenschwerer sind andere Umstände um die angebliche "Reliquie". Leider spricht Fresacher in seinem Buch immer von "Reliquie", ebenso Bischof Stecher, als ob sie ernst zu nehmen wäre, anstatt sie ad absurdum zu führen.

1.) Das bis 1985 am Hochaltar zur Ehrung aufgestellte und seither unglücklicherweise eingemauerte Skelett (S. 162) kann nicht das von Andreas (Anderl) Oxner sein, weil * dieses Skelett viel zu groß ist (zirka 120 Zentimeter). Der Anatom Werner Platzer besichtigte es auf Bitten von Abt Stöger und erklärte, daß es wegen seiner Größe von einem sechs- bis siebenjährigen Kind stamme. Der Abt wagte aber nicht, diesen Befund bekannt zu machen. Das Skelett ist mit vielen Tierknochen ergänzt.

* laut Guarinoni und der Grabinschrift bei der Kirche von Rinn Anderl als zweieinhalbjähriges Kind ermordet worden ist. Der Innsbrucker Gerichtsmediziner Unterdorfer erklärte mir, daß vom zarten Skelett eines zweieinhalbjährigen Kindes nach dreizehn Jahren Erdbestattung, wie es nach der Legende von Guarinoni geschah, nur sehr wenige Knochen übrigbleiben: Das als Reliquie gezeigte Skelett kann also nicht vom Anderl stammen.

2.) Leider ist Bischof Stecher dem Angebot des Gerichtsmedizinischen Institutes Innsbruck, das Skelett auf Alter, Lebenszeit, Geschlecht, Verletzungen u. a. untersuchen zu lassen, nicht nachgekommen und hat es ungeprüft in einer Blechkiste in der Außenwand der Judensteinkirche einmauern lassen, anstatt es an einem geheimen Ort oder in einem Museum zu deponieren, um so die sichtbare Verehrung zu stoppen.

3.) Das hatte zur Folge, daß nun die Verehrung vor jener Stelle der Außenwand durch Abstellen von Blumen und Lichtern weitergeht. Bekanntlich hängt der Kult meist am Kultgegenstand. Vom zuständigen Pfarrer, auch er ein Prämonstratensermönch, ist nicht zu erreichen, daß er Blumen und Kerzen entfernen und zu den Altären im Inneren der Kirche bringen läßt.

4.) Die neue Inschrift seit Juli 1985: "Hier ruht das unschuldige Kind Anderl ..." ist eine voreilige und falsche Feststellung und Anerkennung durch die Amtskirche; sie fördert das Fortleben des Anderlkultes, den sie halbherzig verbieten will. Man getraut sich nicht auf die Unhaltbarkeit der "Reliquie" aufmerksam zu machen (S. 182). Laufend werden in Judenstein Halbwahrheiten produziert. Laut Kirchenrecht dürfen unsichere Reliquien nicht in Kirchen zur Verehrung ausgestellt werden. Aus Furcht vor rabiaten und unbelehrbaren Anhängern blieb das Skelett, wenn auch verborgen, aber mit Namenstafel in der Kirche.

5.) In etwa zehn Kirchen in und um Innsbruck gibt es noch immer Darstellungen des Anderle von Rinn.

Inzwischen machen starr konservative und reaktionäre katholische Kreise das Anderl zum Patron ihres Kampfes gegen die Kirche des II. Vatikanischen Konzils. Es zeigte sich auch die Hartnäckigkeit eines latenten Antijudaismus. Manches wäre historisch noch zu klären, doch die große Masse interessiert sich nicht dafür. Es scheint eine unendliche Geschichte zu werden.

Es ist Bernhard Fresachers Buch zu danken, daß es diese Entwicklungen und Zusammenhänge im Verwirrspiel Judenstein gründlich durchleuchtet.

Der Autor war Diözesanarchivar in Innsbruck.

Anderl von Rinn. Ritualmordkult und Neuorientierung in Judenstein 1945-1995.

Von Bernhard Fresacher. Tyrolia Verlag, Innsbruck 1998. 224 Seiten, brosch., öS 248,

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