Die Mystik der Fraternité

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Vom Gesetz zur Freundschaft: Anmerkungen zur jüngsten Bischofssynode über die Familie im Licht des theologischen Programms von Papst Franziskus.

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Vom Gesetz zur Freundschaft: Anmerkungen zur jüngsten Bischofssynode über die Familie im Licht des theologischen Programms von Papst Franziskus.

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Die folgenden Zeilen zur Synode über Ehe und Familie sind nicht aus der Position des Vatikan-Insiders geschrieben. Vielmehr möchte ich ausgehend von dem, was sich immer deutlicher als theologisches Programm des Papstes abzeichnet, einige Anmerkungen zur Synode machen. Aber gibt es so etwas wie ein theologisches Programm des Papstes?

Weit über die Grenzen der katholischen Welt hinaus wird das Pontifikat von Franziskus als ein Zeichen der Hoffnung gesehen, wobei besonders seine Gesten sowie die pastorale Orientierung und die sozialen Impulse seiner Predigten und Schreiben hervorgehoben werden. Von einer eigenständigen Theologie des Papstes war jedoch anders als bei seinem Vorgänger bisher kaum die Rede. Kürzlich fand an der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät ein Kongress statt, der sich genau dieser Thematik widmete und über 25 namhafte Theologinnen und Theologen aus vielen Teilen der Welt versammelte. Als Bezugspunkt diente das Apostolische Schreiben Evangelii Gaudium, das Kardinal Schönborn in seinem Grußwort an den Kongress als Programmschrift der vom Papst beabsichtigten Reform der Kirche bezeichnete. Ausgehend vom Kongress werde ich im Folgenden vier Überlegungen zur Synode anstellen:

1. Schönborn betont in seinem Grußwort "die gute jesuitische Haltung, lange zu beraten und dann klar zu entscheiden", womit ein erster Hinweis zur Einschätzung der Synode gegeben ist. Diese fällt klar in die Phase der Beratung. Einerseits können Synoden anders als Konzilien keine verbindlichen Beschlüsse fassen, sondern dienen als Beratungsgremium des Papstes.

Es bleibt abzuwarten, wie dieser mit dem 50-seitigen Schlussdokument der Bischöfe umgehen wird. Andererseits diente die Synode, wie Robert Mickens kürzlich schrieb, für den Papst auch dazu herauszufinden, auf welche Bischöfe er bei den von ihm beabsichtigten Reformen künftig zählen könne. Die Synodenteilnehmer mussten ihre Karten auf den Tisch legen. In eindrücklicher Weise haben dies die Vertreter der deutschen Sprachgruppe unter Moderator Kardinal Schönborn getan, als sie sich in ihrem Abschlusstext klar von internen Querschüssen gegen die Synode distanzierten.

Außerhalb des Gesetzes

2. Eine weitere Verbindung des genannten Kongresses zur Synode kann ausgehend von Christoph Theobald SJ (Centre Sèvres, Paris), gezogen werden, der unter dem Titel Mystik der Fraternité. Kirche und Theologie in neuem Stil das Hauptreferat der Tagung hielt. Er weist darauf hin, dass die Frage des "Stils" zentral für Evangelii Gaudium sei. Das Dokument spricht keine neuen Lehrinhalte aus, optiert aber für einen Wechsel von einer sich zu "monolithisch verstehenden 'Lehre'" zu einem "stilistischen Glaubensverständnis".

Damit ist ein Übergang angesprochen, welcher Christentum nicht primär als Lehre, Recht und Moral, sondern eher als eine Weise der Weltwahrnehmung denkt, und zwar einer Weise der Wahrnehmung von Welt und Christentum in ihrer "komplexen Mehrdimensionalität" und der Vielfalt kultureller Ausformungen. Christentum als Stil zu betrachten hat jedoch nichts mit der beliebigen Wahl eines Lebensstils zu tun; im Stil fassen sich vielmehr eine Fülle differenter symbolischer Ausdrucksformen und Gesten in einem Gesamt zusammen, das ihnen ein bestimmtes Gepräge und eine Grundbedeutung zu geben vermag, ohne sie zu nivellieren. Als besonderes stilistisches Merkmal des Pontifikats von Franziskus streicht Theobald die Fraternité heraus.

Dieser in Evangelii Gaudium vielfach zitierte Fokuspunkt ist zunächst aus der Trias Liberté - Egalité - Fraternité geläufig, wo Letztere jedoch eine Sonderstellung einnehme. Während moderne Rechtsordnungen es ermöglichen, Freiheit und Gleichheit einzuklagen, stehe die Fraternité außerhalb des Bereiches, der vom Gesetz geregelt werden kann. Sie bezeichne einen "nicht regulierbaren Bereich immanenter Transzendenz", d.h. einen Bereich, in welchem sich in ganz alltäglicher Weise Formen der Überschreitung der Selbstverschlossenheit und Ichbezogenheit hin auf den oder die Anderen ereignen könnten. Jenseits von Freund/Feind-Schemen besteht darin der Zusammenhalt einer Gesellschaft.

Eine neue Mitmenschlichkeit

Damit scheint mir ein wesentlicher Hinweis auch für das Verständnis der Synode gegeben. Der Akzent des synodalen Prozesses liegt für den Papst nicht im Bereich des Nomos, d.h. des durch das Gesetz regulierten Bereiches, sondern dort, wo das Gesetz selbst keinen Zugriff hat, im Bereich einer neuen Fraternité, einer neuen Mitmenschlichkeit, Nachbarschaftlichkeit und Anteilnahme. Von daher ist auch das von Franziskus verwendete Wort der Barmherzigkeit zu verstehen, das nichts mit dem paternalistischen Zugeständnis zu tun hat, rigide Vorschriften irgendwie abzufedern.

Was den Papst interessiert, ist nicht in erster Linie eine Regulierung des moralischen Lebens durch Gesetze, seien es nun Verbote oder Erlaubnisse, sondern der sich jenseits des Nomos eröffnende Bereich spontaner Begegnungen, der Brüche und der Neuanfänge, der geteilten Hoffnungen und gemeinsamen Visionen. Die entscheidende Frage ist dabei, ob es den Ortskirchen gelingt, aus der Inspiration des Evangeliums einen Beitrag für eine Kultur des Zusammenlebens zu leisten. Inwiefern könnten Ehepartner und Familien dabei zu Bezugspunkten werden für all die Menschen, die heute in den Städten gänzlich entfremdet von ihrer kulturellen Herkunft und von sozialer Einbindung leben?

Freundschaftlich zusammenleben

3. Ich vermag nicht vorauszusagen, ob der begonnene synodale Prozess Hilfestellungen für die vielen pastoral tätigen Priester, Seelsorgerinnen und Seelsorger geben wird, die vor der immer drückenderen Frage stehen, wie sie ihre Verpflichtung der ihnen anvertrauten Gemeinde gegenüber erfüllen können, ohne dabei aus dem Rahmen kirchlicher Vorgaben herauszufallen.

Zunächst ist zu sagen, dass die Fragen und Nöte vieler Menschen aus den unterschiedlichen Kontexten in Rom angekommen sind. Franziskus vertritt, wie Theobald ausführt, den Gedanken, dass in Fragen des Glaubens alle das Recht haben, gehört zu werden (sensus fidei des Gottesvolkes), allerdings brauche dies Zeit, weil alle erst lernen müssten, was es heißt, auf den Glaubenssinn des Volkes zu hören.

4. Hier schließt sich eine weitere Überlegung zur Gemeinschaft des Gottesvolkes und seiner Repräsentanten an, welche der Mailänder Theologe Pierangelo Sequeri in den Kongress an der Wiener Universität eingebracht hat, und welche sich auch auf die Synode übertragen lässt. Sequeri geht von der Passage im Buch Exodus aus, wo Gott dem Mose die Vernichtung des wieder in den Götzendienst zurückgefallenen Volkes ankündigt, während er ihn zu einer großen Nation machen wolle. Mose gibt Gott die überraschende Antwort, dass er nicht ohne sein Volk gerettet werden wolle. Wenn Gott dem Volk nicht vergeben könne, solle er auch ihn aus seinem Buch streichen (Ex 32,32). Nur dann könne er Vermittler göttlicher Offenbarung sein, wenn er auch im Scheitern auf der Seite des Volkes stehe und in der Fürbitte für es eintrete.

Lapidar hält Franziskus in Evangelii Gaudium fest: "Die großen Männer und Frauen Gottes waren große Fürbitter." Für seine Reform der Kirche sucht er Bischöfe, Priester und Seelsorger, Männer wie Frauen, die nicht Richter sind, welche die Welt mittels Urteil und Gesetz zu bewältigen suchen, sondern Zeugen neuer Formen der Konvivialität (Ivan Illich), d.h. eines freundschaftlichen Zusammenlebens, die nicht getrennt von ihren Gemeinden sein wollen.

Der Autor ist Assistent am Inst. für Systematische Theologie der Kath.-Theol. Fakultät/Uni Wien

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