"Die Nachfrage nach Religion wächst heute"

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Was den Stellenwert des Glaubens anbelangt, stellt sich die Situation in den ehemaligen Ostblockstaaten sehr unterschiedlich dar. Drei Gruppen von Ländern unterscheidet der ungarische Soziologe Miklos Tomka im folgenden Gespräch, in dem er besonders auf die Situation in Ungarn eingeht.

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Was den Stellenwert des Glaubens anbelangt, stellt sich die Situation in den ehemaligen Ostblockstaaten sehr unterschiedlich dar. Drei Gruppen von Ländern unterscheidet der ungarische Soziologe Miklos Tomka im folgenden Gespräch, in dem er besonders auf die Situation in Ungarn eingeht.

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dieFurche: Herr Professor Tomka, wie sieht die religiöse Landschaft in den Reformländern heute, zehn Jahre nach der "Wende", aus?

Miklos Tomka: In Ostmitteleuropa scheint es drei Haupttypen zu geben: In Tschechien, Ungarn und Slowenien ist ein großer sozialer Wandel in der kommunistischen Zeit erfolgt, die frühere Tradition konnte abgebrochen werden; das bedeutet, daß in Ungarn und Slowenien etwa 30 Prozent, in Tschechien sogar etwas über 50 Prozent der Bevölkerung völlig ohne Religion aufgewachsen sind. Polen und Rumänien haben ihre traditionelle Frömmigkeit bewahrt. Typ 3 sind jene Länder, die für ihre Nationwerdung, also für den Aufbau ihrer Gesellschaft Religion instrumentalisieren wollen: Kroatien, die Ukraine und vielleicht auch die Slowakei. Das sind drei ganz verschiedene Ebenen der Religiosität.

dieFurche: Ist nicht auch in Polen ein starker Wandel in der Funktion der Religiosität zu bemerken?

Tomka: Selbstverständlich! Es gibt zwei Länder, wo die traditionelle Lebensordnung noch voll erhalten blieb: Es dominiert die Landwirtschaft, es dominieren Nachbarschaft und Familie; die Tradition wird bewahrt und mit all dem auch die Religion. Aber sowohl Polen als auch Rumänien sind jetzt in einer Situation, wo dieses traditionelle System zusammenbricht und in sehr kurzer Zeit eine ganz anders geartete Wirtschaft entsteht. Sicher verlieren Millionen Bauern in wenigen Jahren ihre Arbeit. Diese Erschütterung wird natürlich auch die Tradition erschüttern. Die Frage ist nur, ob man diese Explosion systematisch dämpfen kann. Es ist aber ganz klar, daß Polen keinesfalls als Gegenmodell zur europäischen Entwicklung und Modernisierung verstanden werden kann.

dieFurche: Wie sieht die religiöse Landschaft in ihrem Heimatland Ungarn zehn Jahre nach der Wende aus?

Tomka: In Ungarn ist das Charakteristische eine scharfe Polarisierung zwischen einer wachsenden kirchlich-religiösen Gruppe einerseits und einer religionslosen Gruppe andrerseits. Das steht im Gegensatz zur westeuropäischen Entwicklung, wo eher Außerkirchlichkeit wächst und Religion Konturen verliert: Religion ist zwar da, aber hat immer weniger zu sagen. In Ungarn ist Religion oder explizite Religionslosigkeit ein stark politikbestimmender und verhaltens-prägender Faktor. Und da ergibt sich natürlich auch ein gesellschaftlicher Konflikt zwischen zwei Lagern - eine Kampfsituation, sozusagen eine moderne Version des Kulturkampfes. Es sieht so aus, daß die mittlere Gruppe der außerkirchlich Religiösen schrumpft. In Westeuropa hingegen wird diese Gruppe nicht nur größer, sondern auch von der allgemeinen Kultur am Leben gehalten.

dieFurche: Ist diese besondere Konstellation ein Erbe des Kommunismus?

Tomka: In Ungarn ist die öffentliche Kultur noch weitgehend von der kommunistischen Vergangenheit geprägt, also religionslos bis religionskritisch. Diese Kultur - das bedeutet zum Beispiel den Lehrstoff in den Schulen oder das, was die Medien bringen - ist nicht in der Lage, Religion zu sozialisieren oder zu stützen. Wenn daher die Religiosität nicht kirchengebunden ist, bröckelt sie ab. Kirchlichkeit hingegen wächst - etwas langsamer als Religionslosigkeit, aber sie wächst; es bedeutet auch, daß Religion in Minderheit doch eine der maßgeblichen Säulen der ungarischen Gesellschaft geworden ist. Minderheit bedeutet: Der Anteil der Sonntagskirchgänger ist etwa zwölf Prozent. Etwa 30 bis 32 Prozent der Eltern melden ihre Kinder zum Religionsunterricht an. Man muß sagen: Selbst ein Drittel ist eine Minderheit.

Nur gibt es eben in der ungarischen Gesellschaft sehr wenige Kristallisationspunkte beziehungsweise Modelle, an die man sich anschließen kann. Und in einer stark atomisierten, zersplitterten Gesellschaft kann eine Gruppe von zehn Prozent sehr viel bedeuten. Man muß auch dazu sagen, daß es in Ungarn keine politische Partei gibt, deren Mitgliederzahl zwei oder drei Prozent der Bevölkerung übersteigt; alle politischen Parteien zusammen können keine zehn Prozent aufbringen. So gesehen sind diese zehn oder zwölf Prozent schon eine bedeutende Größe in der ungarischen Gesellschaft - eine Größe, die jetzt langsam eigene Institutionen aufbaut, allmählich eine eigene Intelligenz erzieht, also immer sichtbarer in der Gesellschaft präsent ist.

dieFurche: Was wären typische Beispiele, wo Religion in Ungarn verhaltensbestimmend ist?

Tomka: Bei religiösen Menschen ist die Solidaritätsverpflichtung aller Art oder überhaupt die Vorstellung, daß eine Gesellschaft solidarisch organisiert werden soll, sehr ausgeprägt. In den beiden anderen Gruppen wird das sehr deutlich abgelehnt. Da ist also eine sehr starke Differenz, die sowohl im Alltagsverhalten einzelner als auch in ihren öffentlichen Erwartungen und Rollen als auch in die Großpolitik hinein wirkt. Und religiöse Menschen empfinden sich als glücklicher, zufriedener in einer ganzen Reihe von Dimensionen bis hin zu Gesundheit, Familie und Einkommen - als glücklicher als andere Menschen mit dem gleichen Einkommen oder dem gleichen Gesundheitszustand.

dieFurche: Welche Entwicklung hat die katholische Kirche in Ungarn in diesen zehn Jahren genommen?

Tomka: Vor 10 Jahren waren wir gerade aus jener totalitären Zeit aufgewacht, wo sehr viele Menschen etwas getan haben, aber isoliert voneinander. Und darum meinte ein jeder, daß er allein etwas tat und sein Versuch das allein Richtige war. Jetzt haben wir wahrgenommen, daß sich noch Unzählige angestrengt haben und daß es sehr viele Wege gibt, die in eine gute Richtung führen können. In der Folge relativieren wir sehr vieles von unseren eigenen wie den Handlungen anderer. Wir lernen vielleicht langsam Pluralismus innerhalb der Kirche. Es mag noch ein langer Weg sein, bis alles zusammenwächst, aber ich glaube, daß in diesen zehn Jahren große Schritte getan worden sind.

dieFurche: Wenn wir noch einen Blick auf die globale religiöse Landschaft werfen: die Religionssoziologie geht heute nicht mehr von einer zunehmenden Säkularisierung aus - welche anderen Deutungen gibt es?

Tomka: Eine Argumentationsrichtung besagt, daß die moderne Zeit mit ihrer wachsenden Zersplitterung der Lebensumstände, mit der wachsenden Unsicherheit, welcher das Individuum ausgesetzt ist, einen viel größeren Begründungs-, Legitimierungs- und Sinngebungsbedarf produziert. In früheren Zeiten wurde das von der Gesellschaft mitgeliefert, heute muß ich selbst herausfinden, was sich zu tun oder zu lassen lohnt und warum. In dieser Situation ist Religion viel mehr gefragt als irgendwann in der Geschichte. Das würde heißen, daß diese moderne oder postmoderne Vielfalt eigentlich einen religiösen Boom produzieren müßte - nicht unbedingt einen kirchlichen, aber eine starke religiöse Suche. Wenn Religion nicht in Formeln blockiert ist, müßte diese Suche tatsächlich zu einem Aufleben von Religiosität führen. Amerikanische Soziologen behaupten, daß so etwas vor 100 Jahren in Amerika passiert ist. Auf alle Fälle kann man davon ausgehen, daß die moderne Gesellschaft eine Nachfrage nach Religion produziert und nicht Religion verdrängt.

dieFurche: Was hindert die Kirchen daran, den neuen Religionsbedarf wahrzunehmen?

Tomka: Die Kirche hat eine Weisungs- und Leitungsstruktur, die in den Problemen der Welt nicht automatisch zu Hause ist. Sie will mit der Welt Dialog führen, ohne die Menschen dafür zu haben. Darauf kommt natürlich sofort die Entgegnung: Dafür sind die Laien da! Vom II. Vatikanum wird ja eindeutig gefordert, die Laien sollen das Evangelium in der Welt verbreiten und die Anliegen der Welt in die Kirche hineintragen. Diese Weisung des Konzils ist allerdings nur ein frommes Wort, nicht mehr. Denn wie kann ich die Kirche vertreten, ohne dazu eine formale Legitimation zu haben? Wenn ich irgendwo in einem Institut oder einer Fabrik sage, daß ich für die Kirche spreche, lacht man mich berechtigter- weise aus und sagt: Dazu sind Amtsträger da. Du bist kein Amtsträger! Die Kirche müßte zuerst eine Bevollmächtigung, Beauftragung, ein Amt oder was auch immer geben, bevor sie jemanden schicken kann. Im Augenblick gibt es eine Amtsstruktur in der Kirche, und die ist resistent der Welt gegenüber. Man muß sich fragen, wie ehrlich die schönen Worte vom Dialog mit der Welt sind, wenn die zu ihrer Verwirklichung unumgänglichen praktischen Konsequenzen nicht gezogen werden.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

ZUR PERSON Religionsphilosoph Miklos Tomka, geboren 1941 in Budapest, Professor für Soziologie an der Katholisch Theologischen Akademie der Universität Szeged, Leiter der Abteilung Religionsphilosophie im Institut für Philosophie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und Direktor der Ungarischen Religionssoziologischen Forschungsstelle im Pastoralinstitut der Ungarischen Katholischen Bischofskonferenz. Jüngste Veröffentlichung: Miklos Tomka /Paul Michael Zulehner: Religion in den Reformländern Ost(Mittel)Europas. Schwabenverlag Ostfildern 1999.

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