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Die neuen Bestrebungen in der evangelischen Kirchenmusik

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Neben der katholischen Kirchenmusik ist auch die Entwicklung der Kirchenmusik der evangelischen Kirche A. und HB. m Österreich in ein entscheidendes Stadium getreten. Schon vor dem letzten Krieg waren Bestrebungen im Gange, durch eine neue Zielsetzung und Vertiefung sich das lutherische musikalische Erbe neu anzueignen. Nun, mit dem Gesamtaufbau unseres neuen Österreichs, wird auch dieser Teil des religiösen Lebens neugestaltet. Wie schon in der „Furche“ vermerkt wurde, ist im österreichischen Oberkirchenrat in Wien ein besonderes Referat für Kirchenmusik und Liturgik eingerichtet worden. Ein schon seit Jahren bestehendes Kirchengesetz, das den Pflichtenkreis, die Ausbildung und die kirchliche Prüfung der Kirchenmusiker regelt, soll, sobald es die Verhältnisse erlauben, in Kraft treten und von diesem Referat überwacht werden. Damit kommt man weithin dem Wunsche der Gemeinden entgegen, die selber fühlen, wie wenig die seichte, oberflächliche Romantik ■ dem neuerwachenden, kernigen Glaubensleben innerhalb der Kirche entspricht. Die Besinnung auf das altlutherische Erbe bringt naturnotwendig die liturgische Frage in Fluß. Ein Jahrhundert hindurch war in den evangelischen Kirchen, von Rationalismus und Pietismus überwuchert, „die Ordnung deutscher Messe“, wie sie Luther ins Leben gerufen hatte, vergessen. Nun soll es anders werden. Schon durch die Synode von 1931 in Wien wurde eine einheitliche Gottesdienstordnuhg (Liturgie) für die ganze evangelische Landeskirche in Österreich beschlossen. Diese Liturgie, die durchaus altchristliches Gut mit lutherischer Tradition in Verbindung bringt, knüpft selbstverständlich an den gregorianischen Gesang an. Sie setzt sich langsam auf dem Wege der freien Entschließung der Gemeinden durch, ein Beweis dafür, wie sehr sie einem inneren Bedürfnis entspricht.

Das evangelische Kirchenlied, von Luther zum Gemeindegesang bestimmt, ist von jeher ein köstlicher Schatz unserer Kirchenmusik gewesen. Die großen evangelischen Meister Leo Haßler, Praetorius, Schein, Scheidt und Schütz, ja selbst der große Thomas-Kantor J o h. S e b. Bach und seine Schüler sind ohne Kenntnis des evangelischen Kirchenliedes nicht zu verstehen. So erfolgt die Erneuerung der evangelischen Kirchenmusik vom Kirchenlied her, das schon in seinen Anfängen rhvthmisch gestaltet, nun in ganz anderem Sinne Mittelpunkt des musikalischen Gemeindelebens werden soll. Selbstverständlich knüpft die ganze evangelische Kirchenmusik der Gegenwart an diese Bestrebungen an. Man will nicht mehr geistesfremde „Einlagen“ in dem Gottesdienst, sondern organische Stücke der Liturgie. Man will nicht mehr nur „schöne“ Kunst, sondern überzeugte Wortverkündigung durch Gesang und Musik, wie sich überhaupt in der evangelischen Kirche mehr und mehr die Überzeugung festsetzt, daß neben der Kanzel die Orgelbank und Chorempore der zweite Ort der Wort Verkündigung in der Kirche ist. Bei Tagungen der evangelischen Jugend singt man heute fast ausschließlich den rhythmischen Choral. Dort wird er systematisch eingeübt; bei vielstrophigen Liedern tritt Wechselgesang ein, das heißt, eine Strophe wird von Männern und Frauen gemeinsam gesungen, die zweite von Frauen allein, die dritte von Männern allein, die vierte singt der Kirchenchor, dann wieder alle zusammen usw., was die Dynamik des Liedes außerordentlich erhöht. Wenn diese Jugend einmal führend in die Kirche hineinwächst, dann wird jeder Widerstand auch gegen das Psalmo-dieren und gegen den Altargesang des Geistlichen längst überwunden sein, weil eben diese Jugend dafür eintritt. Es ist gut lutherische Tradition, daß der Geistliche vor dem Altar, so wie in der katholischen Kirche, nicht nur im Wechselgesang mit der Gemeinde psalmodiert, sondern die Kollekte und sogar das Evangelium an Festtagen singt. Dazu müssen freilich erst die Geistlichen ausgebildet werden, wozu jüngsthin an der evangelischen theologischen Fakultät in Wien die Grundlage geschaffen wurde, da dort nun eine Vorlesung und Übungen für Kirchengesang der Geistlichen eingerichtet ist. Sagt doch Luther selbst: „Ein Schulmeister muß singen können, sonst sehe ich ihn nicht an. Auch soll man junge Gesellen zum Predigtamt nicht verordnen, sie haben sich denn in der Schule in der Musica wohl versucht und geübt. Auch bin ich nicht der Meinung, als sollten durch das Evangelium alle Künste zu Boden geschlagen werden und vergehen, wi e manche Abergeistliche vorgeben, sondern ich wollte gern alle Künste, besonders die Musik, im Dienste dessen sehen, der sie gegeben hat.“

Die in Wien vom 18. bis 24. Mai 1946 abgehaltene evangelische kirchenmusikalische Tagung, die weithin von bestem Erfolg begleitet gewesen ist, zeugt vom Aufbau-wiilen in dieser Richtung. Jüngsthin fand die erste Tagung für evangelische Kirchenmusik in den Bundesländern in V i 11 a c h vom 5. bis 7. August dieses Jahres statt, überall verbunden mit aufklärenden Kursen über richtige Kirchenmusik, über die innere Haltung von Organist und Chormeister, mit Hinweisen %auf Harmonielehre und Modulation, mit Übungen für Kirchenchöre im Psalmodieren und Altargesang für Geistliche. Die Villacher Tagung vereinigte neben der ganzen Gemeinde, die morgens und abends vor und nach der Tagesarbeit zum gemeinsamen Üben der Choräle zusammenkam, fünfundzwanzig Teilnehmer, die die Kurse von Stunde zu Stunde besuchten. Es kann mit Befriedigung festgestellt werden, daß der Gedanke der altlutherischen Kirchenmusik in unseren Gemeinden mehr und mehr Wurzel faßt. Derartige Kurse und Unterweisungen sollen in nächster Zeit in allen Bundesländern fortgesetzt worden und den Gedanken stilgerechter evangelischer Kirchenmusik bis ins kleinste Dort tragen. Freilich hängt mit all diesen Bestrebungen auf das innigste zusammen, daß die materielle Stelhing “des Kirchenmusikers innerhalb der Gemeinde gesichert wird- Es geht nicht mehr an, daß man von irgendeinem Kirchenmusiker gewisse Leistungen verlangt, ohne daß er selbst ein Entgeh erhält. Weithin leistet die evangelische Pfarrfrau außerordentlich Ersprießliches auf diesem Gebiete. Sie spielt in vielen Gemeinden die Orgel und unterstützt die Tätigkeit ihres Mannes. In den Städten aber, und dort, wo es irgendwie die Gemeinde leisten kann, sollen an die Spitze der Kirchenmusik fachlich gebildete Kirchenmusiker treten, wenn möglich mit akademischer Ausbildung. Haben wir doch in der Abteilung für Kirchen- und Schulmusik der Staats-akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien eine Stätte der Ausbildung, von der wir erwarten, daß sie weithin auch aus den Donaustaaten evangelische Schüler heranziehen wird, die sich dem Kirchen-muSikerbemfe widmen wollen.

In dem reich gegliederten lutherischen Gottesdienst können, liturgisch bedingt, auch Kornpositionen der Gegenwartsmeister eingefügt werden, so daß sich auf dem Gebiete der Kirchenkomposition ähnlich, wie auf dem der Meßkomposition der katholischen Kirche, ein reiches Betätigungsfeld für Komponisten ergibt. Hoffen wir, daß die an sich kleine, aber doch für die ehemaligen Nachfolgestaaten bedeutungsvolle evangelische Kirche Österreichs auf diesem Gebiete, der musikalischen Tradition unserer Vaterstadt entsprechend, zu neuem Leben gelangen wird.

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