Die Not der Kinder - und ihrer Helfer

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Das neue Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz sei ein "Durchbruch“, frohlockt die Regierung. Verbessert es tatsächlich den Kinderschutz und die Situation der Sozialarbeiter? Ein Rundruf.

Es ist der 1. November 2007, als der damals 17 Monate alte Luca ins Wiener SMZ Ost-Spital eingeliefert wird. Monatelang hat ihn der Freund seiner Mutter, einer gebürtigen Tirolerin, misshandelt und sexuell missbraucht. Am 3. November stirbt er schließlich an den Folgen seiner schweren Kopfverletzungen. Warum haben die Behörden in Niederösterreich und Tirol nicht reagiert, obwohl sie vom leiblichen Vater und von Ärzten über die Gewaltanzeichen informiert worden waren? Diese Frage durchzieht nicht nur den Prozess gegen die verantwortliche Mitarbeiterin der Jugendwohlfahrt in Schwaz (die in erster Instanz schuldig und in zweiter Instanz frei gesprochen wird), sondern führt auch zu hitzigen Debatten über den lückenhaften Kinderschutz. Im Juni 2008 bringt die damalige Familienministerin Andrea Kdolsky schließlich eine Novelle zum Jugendwohlfahrtsgesetz ein.

Nun, knapp fünf Jahre später - und zwei Jahre nach dem "Fall Cain“ in Vorarlberg, bei dem das Jugendamt nichts von den Vorstrafen des Stiefvaters wusste - haben sich Bund und Länder endlich auf ein Rahmengesetz geeinigt (s. Kasten). Sein Herzstück ist die Einführung des Vier-Augen-Prinzips: Bei der Gefährdungsabklärung wie auch bei der Hilfeplanung sollen künftig zwei Fachkräfte "erforderlichenfalls“ zusammenarbeiten. Freilich kann man von Seiten des Bundes nur "Impulse“ geben: Die genaue Ausgestaltung obliegt den Ländern.

Genau in diesem "destruktiven Föderalismus“ sieht Georg Dimitz vom Berufsverband der SozialarbeiterInnen das Hauptproblem (siehe Interview). Das Gesetz selbst betrachtet er als "Mini-Mini-Schritt“, der den Kinderschutz wie auch die Situation der Sozialarbeiterinnen kaum verbessern werde.

Tatsächlich haben viele Mitarbeiterinnen von Jugendämtern (zumeist arbeiten hier Frauen!) das Gefühl, mit ihrer Verantwortung allein gelassen zu werden. Eine von ihnen, nennen wir sie Anna, hat deshalb ihren Job an einer steirischen Bezirkshauptmannschaft quittiert. "Die Verantwortung passt mit dem Gestaltungsrahmen nicht zusammen“, erzählt die Quereinsteigerin, die eine Fachhochschulausbildung für Sozialarbeit und Sozialmanagement absolviert hat. "Mir war es immer wichtig, mich - nach Einverständnis der betroffenen Eltern - mit allen zuständigen Stellen zu vernetzen und dadurch der Familie die beste Hilfe anbieten zu können.“ Hätte sie sich nicht extra um diese Helferkonferenzen bemüht, es hätte diesen Austausch aus Ressourcenmangel nicht gegeben. Sie selbst sei folglich immer mehr an ihre Grenzen geraten. Supervision habe es zwar gegeben, sie in Anspruch zu nehmen sei jedoch "sehr aufwändig“ gewesen. Als sie nach zwei Jahren auszubrennen drohte, zog sie die Reißleine und kündigte.

Heute sieht Anna das verstärkte Vier-Augen-Prinzip im neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz entsprechend positiv: "Je mehr Kolleginnen auf einen Fall schauen, desto besser ist es“, erklärt sie. Was die Steiermark betrifft, so hat man dieses Prinzip bereits 2007 bei der Gefährdungsabklärung eingeführt, nicht jedoch bei der darauf folgenden Hilfeplanung. Durch die Kostenbeteiligung des Bundes könne man nun sieben bis acht zusätzliche Dienstposten für diesen Bereich finanzieren, rechnet die leitende Sozialarbeiterin des Landes, Irmgard Leber, vor. Dass sich Kolleginnen im Stich gelassen fühlen, kann sie nicht nachvollziehen: "Helferkonferenzen sind bei uns Usus. Aber organisatorisch kann man sicher noch einiges verbessern. Je weniger Schnittstellen es gibt und je verlässlicher Berufseinsteigerinnen begleitet werden, desto sicherer werden die Kolleginnen in ihrer Arbeit.“

Diese Philosophie gilt für alle Bundesländer. Und wie sieht die Praxis aus? In Vorarl-berg hat man nach dem "Fall Cain“ das Jugendwohlfahrtsgesetz völlig überarbeitet und als "Kinder- und Jugendhilfegesetz“ gerade in Begutachtung geschickt. Über zehn neue Dienstposten wurden geschaffen und das Vier-Augen-Prinzip bei allen Gefährdungsabklärungen installiert. In der Großstadt Wien, wo im Vorjahr rund 10.500 Verdachtsmomente von 1700 Mitarbeiterinnen bearbeitet werden mussten, werde das Vier-Augen-Prinzip "längst durchgängig angewendet“, erklärt Herta Staffa von der Wiener Magistratsabteilung elf. "Ich glaube, dass die Situation in den Bundesländern schwieriger ist, weil die Kolleginnen dort sehr disloziert arbeiten“, so Staffa. Belastend sei die Arbeit freilich für alle Kolleginnen - auch wenn es künftig mehr Ressourcen gebe.

Belastende Verantwortung

Gabriele Herlitschka weiß, was das heißt: Die Leiterin des Jugendamtes Innsbruck hat vor acht Jahren dafür votiert, einem Ehepaar zwei Kinder wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch abzunehmen. Das Paar klagte, ging bis zum Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg - und bekam nicht Recht. "Ich stehe zu meiner damaligen Entscheidung“, sagt sie heute - und begrüßt zugleich die Möglichkeit für Eltern, im Zuge des am 1. Februar in Kraft getretenen, neuen Obsorgerechts einen Überprüfungsantrag ans Gericht stellen zu können, ob eine konkrete Jugendamts-Entscheidung zulässig war. Dass das geplante Tiroler Kinder- und Jugendhilfegesetz ein prinzipielles Vier-Augen-Prinzip vorsieht, hält sie hingegen für nicht notwendig: "Ich wünsche mir weiterhin die Möglichkeit, zu differenzieren“, sagt sie zur FURCHE. "Wir bekommen ja auch Meldungen, dass etwa ein Kind als Schuljause immer nur eine Topfengolatsche mitbekommt. Hier zu zweit loszuziehen, wäre eine Verschwendung von Ressourcen.“

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