Die Politik nicht ins Gericht verlagern

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Durch so weite Rechtsbegriffe wie die Sozialstaatsklausel in der Verfassung, verschieben sich politische Entscheidungen weg vom Parlament hin zum Verfassungsgerichtshof.

die furche: Warum soll ich das Sozialstaat-Volksbegehren nicht unterschreiben?

Wolfgang Mazal: Ich möchte weder eine Empfehlung in die eine noch in die andere Richtung abgeben. Nur: das Thema des Volksbegehrens ist sehr komplex, und es besteht die Gefahr, dass hier im tagespolitischen Alltag zu sehr vereinfacht wird. Ob man das Volksbegehren unterschreibt oder nicht, sollte aber keinesfalls auf die Nagelprobe zwischen sozial und asozial reduziert werden.

die furche: Sie sprechen von der Komplexität des Themas: Kann man den Sozialstaat per Verfassung vorschreiben?

Mazal: Das ist der Kern des Problems. Der Begriff "sozial" ist von so großer Offenheit und leider weithin auch tagespolitisch missbraucht, dass ich gravierende Bedenken habe, diesen Terminus als Rechtsbegriff in der Verfassung zu verankern. In Auslegung dieses Rechtsbegriffs könnte dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) ein enormer Stellenwert in der Tagespolitik zukommen, der derzeit beim Parlament liegt.

die furche: Würde hier eine Entwicklung fortgesetzt, die wir schon in den vergangenen Monaten zur Genüge erlebt haben, dass immer mehr politischen Themen vom VfGH entschieden werden?

Mazal: Die Verschiebung der politischen Entscheidungen aus der Sphäre des Parlaments hin zur Sphäre des Gerichts ist in der Tat ein zentrales Problem, weil es um die demokratische Rückbindung politischer Entscheidungen geht. Politische Entscheidungen in Sozialfragen sollten primär im Parlament liegen und ist es ausreichend, wenn der VfGH die Möglichkeit hat, Regelungen aufzuheben, die schwerwiegende soziale Probleme aufwerfen. Dazu reicht das geltende Recht zweifellos aus. Wenn man dem VfGH durch die Sozialstaatsklausel einen größeren Stellenwert einräumt, würden sich politische Gewichte weg vom Parlament hin zum Gericht verschieben. Und das hielte ich für unsere parlamentarisch ausgerichtete Demokratie für nicht wünschenswert.

die furche: Wie lautet Ihre Alternative zum Sozialstaat-Volksbegehren?

Mazal: Für mich besteht die Alternative darin, den Sozialstaat innerhalb der bestehenden Verfassung aktiv gestaltend zu leben. Wir alle müssen uns immer neu der Frage nach der Balance zwischen sozialem Schutz und Eigenverantwortung stellen. Insofern ist der Sozialstaat etwas extrem Dynamisches und muss Veränderungen immer neu zugänglich sein. Ein Staat, der an erreichten Niveaus festhält, auch wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern, ist deswegen noch nicht sozial. Es geht darum, die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit des Staates immer neu zu stellen, und in jeder Generation neu zu beantworten. Mir ist der Ansatz des Volksbegehrens zu statisch, nach dem Motto: Das Erreichte bewahren.

die furche: Sind in Österreich die Gremien und Foren, um den Sozialstaat mit Leben zu erfüllen, vorhanden?

Mazal: Das zentrale Forum, das sich dieser Aufgabe stellen muss, ist das Parlament. Tatsächlich sehe ich aber ein Defizit im Parlamentarismus der letzten Jahrzehnte: Der Sozialstaat wurde in seiner konkreten Ausgestaltung primär den Sozialpartnern überlassen. Ich möchte die Rolle der Sozialpartner nicht abwerten, aber es sind hier auch andere Kräfte gefordert, die in der Sozialpartnerschaft traditionellen Stils nicht repräsentiert sind. Das Forum für alle diese Kräfte müsste das Parlament sein. Das Parlament hat sehr häufig sozialpartnerschaftliche Konsense übernommen, ohne eigene Gestaltungskraft zu entfalten. Dabei sind wichtige politische Interessen unberücksichtigt geblieben.

die furche: Gibt es Vorbilder für die Verankerung der Sozialstaatsklausel in der Verfassung?

Mazal: Die Diskussion um das Sozialstaatsprinzip in der Verfassung reicht zurück bis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Rahmen der Französischen Revolution. Seit damals ist es strittig, ob man soziale Themen ausdrücklich in der Verfassung verankern soll oder nicht. Auch in Österreich wird diese Frage seit Jahrzehnten diskutiert. Bislang hat man sich aber aus guten Gründen nicht zu diesem Schritt entschlossen. Es gibt das Sozialstaatsprinzip aber in etlichen Verfassungen, zum Beispiel im Bonner Grundgesetz.

die furche: Ist Deutschland deswegen der bessere Sozialstaat als Österreich?

Mazal: Ich glaube nein. Das hängt damit zusammen, dass Zielbestimmungen wie das Sozialstaatsprinzip unserer Verfassungstradition zwar fremd sind, soziale Anliegen aber sehr wohl im Rahmen der Grundrechtsinterpretation berücksichtigt werden. Unsere Verfassung arbeitet weniger mit wohlklingenden Zielbestimmungen, sondern mit justiziablen Ansprüchen. Umgekehrt bedeutet dies: Wenn es sich um eine Zielbestimmung handelt, darf man sich auch keine allzu großen konkreten Effekte in der Judikatur erwarten.

die furche: Wenn nicht die Sozialstaatsklausel, was geht der Verfassung ab?

Mazal: Wenn man unserer Verfassung eine Zielbestimmung geben will, dann würde ich - ähnlich wie im Bonner Grundgesetz - die Sicherung der "Würde des Menschen" normieren. Eine solche Zielbestimmung ist nur in wenigen, dafür aber umso gravierenderen Themen relevant, könnte aber zugleich klarer als ein Sozialstaatsprinzip Auskunft darüber geben, was der eigentliche Sinn und Zweck des Staates ist.

Die Gespräche führte Wolfgang Machreich.

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