Die Ränder dehnen sich ins Zentrum aus

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Der Politologe Ivan Krastev über enttäuschte Erwartungen seit der Wende von 1989, Wellen des Populismus in den früheren Ostblock-Ländern und warum Viktor Orbán im Trend liegt.

* Das Gespräch führte Rudolf Mitlöhner

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev glaubt, dass die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre in den postsozialistischen Ländern viel überraschender sein werden als die letzten zwanzig Jahre.

Die Furche: Vor mehr als zwanzig Jahren fand in den ehemaligen Ostblock-Staaten die große Wende statt. Könnte man sagen, dass die MOEL-Länder heute vor oder mitten in einer "zweiten Wende“ stehen - in Richtung stabiler marktwirtschaftlicher wie rechtsstaatlicher Verhältnisse?

Ivan Krastev: Die entscheidende Frage ist nicht, was passiert ist, sondern was die Leute erwartet haben. Erwartungen sind etwas ganz Wichtiges. Und die Erwartungen waren hochgespannt - man dachte, dass man fünf bis acht Jahre brauchen würde, um den Anschluss zu finden, vielleicht nicht an Deutschland oder Österreich, aber zumindest an Spanien oder Portugal. Nun, zwanzig Jahre später, muss man sagen: Das meiste von dem, was die Leute erwartet haben, ist auch passiert. Es gibt Demokratie, die Leute können wählen, wer sie regiert, es gibt Marktwirtschaft. Aber es gibt auch sehr viel Enttäuschung. Diese Enttäuschung wurde vertieft durch die Wirtschaftskrise, aber nicht nur wegen der ökonomischen Dimension; das hat viel mit den Erwartungen zu tun. Wir dachten, mit der Wende in eine Welt ohne Krisen einzutreten, wir dachten, die Krise läge hinter uns.

Die Furche: Wie sieht es tatsächlich aus?

Krastev: Ich denke, dass die nächsten zehn, fünfzehn Jahre in den postsozialistischen Ländern viel überraschender sein werden als die letzten zwanzig Jahre. Die letzten zwanzig Jahre verliefen, ungeachtet aller Schwierigkeiten für die Menschen im Ökonomischen, weitgehend nach Plan. Nun aber sehen wir, dass die Gewissheiten von gestern sehr stark infrage gestellt werden. Was vor zehn Jahren als gut wahrgenommen wurde, gilt heute vielfach als schlecht. Nicht die Leute von der Straße, die gegen die Regime auf die Straße gegangen sind, sind die Gewinner der Wende; vielfach sind es die alten Eliten, die Nomenklatura, der es gelungen ist, ihre politische in wirtschaftliche Macht zu transformieren. Ein gutes Beispiel ist die Öffnung der Grenzen. Das war mit sehr vielen Emotionen verbunden. Die Kehrseite ist, dass viele hochqualifizierte Leute ihre Länder verlassen haben und die Gesellschaften gealtert sind. Was früher als Bewegungsfreiheit wahrgenommen wurde, gilt heute vielfach als Erfahrung von Verlust - eines Teils der interessantesten Leute der jüngeren Generation. Generell darf man nicht vergessen, dass die zentrale Botschaft von 1989 war: Wir wechseln das System; und nicht: Wir ersetzen eine Elite durch eine andere.

Die Furche: War das also eine Illusion?

Krastev: Zum Teil, ja. Und ich glaube, wir werden in den nächsten Jahren eine Radikalisierung der Politik in den Reformstaaten erleben. Populistische Wellen, die sich antikorruptionistisch geben, auf Ressentiments gegen Minderheiten setzen - das wird sich nicht nur auf das eine oder andere Land beschränken, das wird ein allgemeiner Trend.

Die Furche: Sie meinen, Ungarn wird eine Art Modellcharakter bekommen?

Krastev: Ich glaube, das, was in Ungarn passiert, hat viel mehr Bedeutung, als das, was wir zuvor in Polen gesehen haben. Wenn man es genau besieht, so war die Politik der Kaczynski-Zwillinge nicht wirklich radikal. Zunächst hatten sie keine ausreichend starke Mehrheit; dann gab es sehr starken Widerstand seitens der Opposition - es war ein gespaltenes Land. Man kann sagen, es war eine hässliche, laute Regierung, aber sie konnte nicht allzu viel verändern. Ganz anders Ungarn: Viktor Orbán ist ein äußerst begabter, talentierter Politiker, der ein gutes Gespür für den politischen Paradigmenwechsel hat. Was er macht, ist in hohem Maße Kalkül. Er ist kein harter Nationalist. Er hat die Wahlen gegen eine sehr korrupte Vorgängerregierung gewonnen, er hat den Leuten gesagt, dass sie betrogen worden sind: von den politischen Eliten, von Europa. Jetzt gelte es, sich wieder um die eigenen nationalen Interessen zu kümmern. Wir sind ein kleines Land, so heißt es, das auf sich selbst schauen muss. So gesehen ist Orbán für mich nicht so sehr eine Herausforderung an die frühere "Political Correctness“, sondern er verkörpert die neue "Political Correctness“, die aufzieht. Er ist die zugespitzte Version eines Politikers, wie er heute im Mainstream liegt. Wir haben es heute nicht mit Antiliberalen, sondern mit Ex-Liberalen zu tun. Orbán könnte ein Modell für viele Enttäuschte werden, die sagen, mit der Wende ist etwas schiefgelaufen, wir brauchen eine andere Art von Politik.

Die Furche: Sie haben in einem Artikel geschrieben, man dachte, das große Problem für die EU würde der Osten werden, nun aber zeige sich, dass es der Süden ist …

Krastev: Ich denke tatsächlich, dass die Wirtschaftskrise gezeigt hat, dass die Spaltung zwischen Norden und Süden weit wichtiger ist für das Verständnis der europäischen Dynamik als die zwischen Westen und Osten. Zur Zeit der Ost-West-Spaltung hatte Deutschland eine Sonderrolle: Deutschland war sowohl Osten als auch Westen, es balancierte zwischen beiden Seiten. Jetzt aber hat Deutschland diese Rolle verloren. Zwischen Norden und Süden steht Deutschland eindeutig auf der Seite des Nordens. Das Land dazwischen ist heute Frankreich - aber Frankreich ist nicht stark genug, weder wirtschaftlich noch politisch. Und das schafft ein großes Problem für die EU. Es bedeutet auch etwas völlig Neues: Seit zwanzig Jahren hat sich das Zentrum Europas Richtung Peripherie ausgedehnt; vom Zentrum aus wurden die Länder am Rand beeinflusst und verändert. Nun, als Folge der Wirtschaftskrise, erleben wir, dass sich die Peripherie Richtung Zentrum ausdehnt. Vor fünf Jahren hätte man beispielsweise gedacht, dass zwischen der Art und Weise, wie Griechenland funktioniert, und jener Bulgariens ein großer Unterschied besteht. Heute hat niemand mehr diesen Eindruck - und zwar nicht deswegen, weil Bulgarien so sehr aufgeholt hätte …

Die Furche: Bedeutet diese Entwicklung, dass im Zentrum eine Art Angst entsteht?

Krastev: Absolut, ja. Das Zentrum fühlt sich wie belagert. Ich denke daher, in den nächsten Jahren werden sich West und Ost überlegen müssen, was die Europäische Union sein soll, sie gewissermaßen neu erfinden müssen. Das, was früher das Fundament bildete, der Friede, taugt heute nicht mehr. Nicht, weil er nicht für wichtig gehalten würde, sondern weil man ihn für selbstverständlich nimmt. Dazu kommt noch etwas: Die Menschen in den MOEL-Ländern haben das Gefühl, dass mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird: Warum wird immer nur über Korruption in Rumänien oder Bulgarien geredet, nicht aber über die in Italien?

Die Furche: Warum ist das so?

Krastev: Es ist generell der Eindruck: Wer drinnen ist, kann sich alles erlauben; während die Kandidatenländer alles tun müssen, um eingelassen zu werden. Sobald man drinnen ist, handelt man wie alle anderen auch: Man verteidigt nationale Interessen, ist da oder dort widerborstig oder benimmt sich sonst irgendwie schlecht.

Die Serie "Die zweite Wende“ erscheint in Kooperation mit der Erste Bank.

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