„Die Schlepper nützen Armut – im Süden und im Norden“

Werbung
Werbung
Werbung

Die Turiner Schwester Eugenia Bonetti über die Wurzeln des Frauenhandels und warum es zu kurz greift, bei der Bekämpfung des Menschenhandels allein an die versklavten Frauen zu denken. Das Gespräch führte Wolfgang Machreich

Schwester Eugenia Bonetti ist Italiens Gesicht gegen den Menschenhandel – und mehr: Die Missionsschwester ist die engagierteste Stimme gegen die moderne Sklaverei in der katholischen Kirche:

Die Furche: Sr. Eugenia, warum ist der Menschenhandel heutzutage ein derartig großes Geschäft?

Sr. Eugenia Bonetti: Wir reden hier von einem Geschäft, das 32 Milliarden Dollar im Jahr und mehr ausmacht. Und das ist der einzige Grund dafür …

Die Furche: … das Geld …

Sr. Eugenia: … es geht um Geld und Geld und nochmals Geld. Nach dem Waffen- und Drogenhandel ist der Menschenhandel das drittgrößte Geschäft weltweit.

Die Furche: Okay, Waffen, Drogen, aber warum Menschen?

Sr. Eugenia: Das ist die neue Form der Sklaverei und es ist die schlimmste Form der Sklaverei, die es je auf Erden gegeben hat. Die alte Form der Sklaverei hat die Arbeitskraft dieser Menschen ausgenützt. Aber die Versklavung im Frauenhandel geht viel weiter, tiefer. Wir zerstören dabei das innerste Selbst dieser Frauen und Jugendlichen. Wir zerstören ihre Jugend, wir zerstören ihre Schönheit, ihre Träume, ihr ganzes Leben. Wenn wir diese Frauen retten, in unsere Schutzzentren bringen, sie wieder in ein normales Leben einlernen – da erleben wir erst, wie kaputt diese Menschen gemacht wurden.

Die Furche: Kaputt?

Sr. Eugenia: Ja, kaputt, das ist das richtige Wort: kein Wille mehr, keine Kraft, keine Träume – nur mehr ein toter Körper, der herumgeht.

Die Furche: Was sind für Sie die maßgeblichen Gründe dafür?

Sr. Eugenia: Eine Wurzel des Menschenhandels ist die Armut. Die meisten der Frauen kommen aus den ärmsten Ländern der Welt. Wir nennen sie die Dritte Welt, aber wir sollten sie besser die in die Armut getriebene Welt nennen. Wir haben sie verarmt, zu unserem Nutzen. Jetzt nehmen wir auch noch ihre Frauen und Kinder. Aber es gibt noch eine zweite Armut …

Die Furche: … in Europa …

Sr. Eugenia: Wir versuchen mit allen Mitteln unser Leben zu genießen – aber es nützt nichts, wir bleiben arm. Doch wir machen weiter, unterjochen weiter – um unsere Machtbedürfnisse zu befriedigen. Und das ist die zweite Wurzel für den Menschenhandel. Das Gefühl der Macht: Ich zahle für dich, aber du musst tun, was ich will. Ich bin der Master, du bist mein Sklave – weil ich es mir leisten kann, weil ich das Geld habe, weil ich für Sex zahlen kann.

Die Furche: Sie geben dieser zweifachen Armut die Schuld am Menschenhandel?

Sr. Eugenia: Die Schlepper nützen diese zwei Sorten von Armut aus: die materielle Armut im Süden und die immaterielle Armut im Norden. Sie bringen diese beiden Pole zusammen. Deswegen müssen wir beide Seiten im Auge behalten: Wenn wir diese Frauen zu retten zu versuchen, dürfen wir nicht vergessen, auch den Männern zu helfen.

Die Furche: Wie Männern helfen?

Sr. Eugenia: Wir fokussieren unsere Aufmerksamkeit auf die geschleppten und verkauften und ausgenützten Frauen – und das ist gut, sie brauchen jede Unterstützung. Aber auch die Männer sind Sklaven. Sie sind Sklaven in einer anderen Form, Sklaven eines anderen Zwanges, einer anderen Welt, in der alles gekauft und verkauft werden darf.

Die Furche: Logisch, auch auf dieser Seite anzusetzen; warum wird das nicht oder zu wenig gemacht?

Sr. Eugenia: Wir scheuen uns, die Männer anzugreifen, weil es angeblich um ihr Privatleben geht. Aber das ist kein Argument. Wer fragt bei diesen versklavten Frauen nach ihrem Privatleben. Wir müssen beide Seiten im Auge behalten, die Frauen und die Männer – die Männer müssen sich fragen: Warum zerstöre ich das Leben dieses jungen Mädchens? Denn es ist klar: Unsere Männer zerstören so die Menschenwürde dieser Frauen. Trotzdem wird zu wenig getan, um die Nachfrage zu brechen. Solange das nicht gelingt, werden wir diese Sklaverei nicht stoppen. Die Menschenhändler finden immer neue Wege: Wir schließen eine Tür, sie öffnen ein Fenster.

Die Furche: Wird diese „ganzheitliche“ Sicht von den maßgeblichen Stellen geteilt?

Sr. Eugenia: Leider nicht. Nicht auf staatlicher Ebene und auch nicht in der Kirche. Wir klagen darüber auch gegenüber Vertretern der Männerorden. Das sollte für sie eine große Herausforderung sein. Wir kümmern uns um die Frauen, das ist unsere Aufgabe, aber die Männerorden müssten sich mehr der Männer annehmen. Das ist ihre Aufgabe. So wie die Aufgabe von Priestern, Pfarrgemeinden …

Die Furche: Ihr Team zählt mehr als 250 Schwestern …

Sr. Eugenia: … allein in Italien …

Die Furche: Und das in Zeiten, wo viele Frauenorden in Europa ohne Nachwuchs dastehen.

Sr. Eugenia: Die Gründerinnen und Gründer unserer Ordensgemeinschaften haben auf die Nöte und Sorgen ihrer Zeit geantwortet. Jetzt haben wir neue Nöte, auf die wir antworten müssen: Wo werden heute Menschen ausgebeutet? Dort ist unser Platz, dort müssen wir sein. Viele Kongregationen sehen in der Antwort auf diese Frage auch eine Chance, sich zu revitalisieren. Wir haben Klöster, viele stehen leer, daneben braucht es Schutzräume für diese Frauen.

Die Furche: Die Kirche als Gegenspieler und sicherer Ort im Kampf gegen den Menschenhandel?

Sr. Eugenia: Unser Reichtum sind unsere Netzwerke – weltweit. Damit können wir den Menschenhändlern Paroli bieten. Und mit unserer Vernetzung können wir auch die Gesetzgebung in den einzelnen Staaten und in Europa beeinflussen. Wir können helfen, heilen, aber wir können ihnen keine Dokumente geben. Das geht nur, wenn wir mit den Regierungen zusammenarbeiten. Wir müssen verständlich machen, dass diese Frauen Opfer sind, die unseren persönlichen und kirchlichen Schutz und die Unterstützung des Staates brauchen.

Die Furche: Sie und ihre Mitschwestern haben in den letzten zehn Jahren mehr als 6000 Frauen aus den Händen von Menschenhändlern befreit – trotzdem: dieser Markt wächst. Woher nehmen Sie die Zuversicht für Ihre Arbeit?

Sr. Eugenia: Wir schauen nicht auf Zahlen, wir schauen in die Augen dieser Menschen. Wir treffen sie jeden Tag, mit ihren Träumen, mit ihren Tränen – das genügt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung