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Die Stunde des sozialen Katholizismus

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Dieser Aufsatz des bekannten, derzeit in England wirkenden Soziologen wurde vor der Papstansprache zum österreichischen Katholikentag geschrieben, deren Ausführungen zur sozialen Frage ein starkes Echo ausgelöst haben. Er stellt eine umfassende Zusammenschau des Gesamtproblems der katholisch-sozialen Bewegung dar. .Die Österreichische Furche"

Man wird nicht fehlgehen, wenn man die ersten Anfänge des sozialen Katholizismus im europäischen Raum, der bisher unbestritten die Führung in der Welt behielt, ungefähr in die Mitte des vorigen Jahrhunderts verlegt, so in Österreich, Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland, Italien. Unter dem sozialen Katholizismus verstehe ich hier die katholischsoziale Bewegung, geistig und organisatorisch, zum Unterschied von der mit dem Lehr- und Hirtenamt verbundenen Wirksamkeit der Kirche. Wir können also ungefähr auf hundert Jahre sozialen Katholizismus zurückblicken. „Quadragesimo Anno" hat im Rückblick auf die vierzig Jahre seit „Rerum Novarum" auf ganz wesentliche Erfolge hinzuweisen vermocht. Hier soll versucht werden, einige Anhaltspunkte für eine Gesamtorientierung hervorzuheben, die ersehen lassen, wie die Situation heute ist. Denn darüber, daß das Entscheidende für den sozialen Katholizismus noch nicht getan ist, dürfte kein Zweifel bestehen. Es wurde in diesen hundert Jahren das Ärgste abgewendet, aber die soziale Frage hat an brennender Schärfe nichts verloren.

Wollte man mit zwei Strichen die Lage kennzeichnen, dann könnte man vielleicht sagen: die ganze Entwicklung hat so weit in die entgegengesetzte falsche Richtung ausgeschlagen, als vor hundert Jahren die Entwicklung, die das katholischsoziale Gewissen auf den Plan rief, nach der anderen Seite von der natürlich-sittlichen Ordnung von Staat und Wirtschaft abgeirrt war. Damals war die alles überwuchernde individualistische Freiheit die Gefahr. Heute ist es dieinnerste Bedrohung der Freiheit durch did in Staat und Wirtschaft unaufhaltsam vordringenden Kollektivmächte, getragen von der Entwicklung zur Massengesellschaft, die die Situation kennzeichnet, eine Situation, die dadurch weiter erschwert wird, daß der individualistische Freiheitswille noch immer starke Bollwerke in der heutigen Gesellschaft besitzt. So sieht sich der soziale Katholizismus in der Defensive gegenüber den die Gesellschaft weithin bestimmenden individualistisch-kollektivistischen Mächten, während die Möglichkeit entscheidender Schritte in der Neuordnung der Gesellschaft von den christlich-sittlichen Prinzipien her fern liegt wie seit) jeher. Nur ganz kurz können hier

die Hauptgesichtspunkte zur Kennzeichnung der Situation berührt werden.

Unzweifelhaft erscheint zunächst, daß der soziale Katholizismus sich weiter auf die Linie der staatlichen Sozialpolitik festlegen ließ, als mit seinen eigenen Prinzipien vereinbar ist. Man hat die Gefahren schon früh gesehen, man denke etwa an die seinerzeitigen Warnungen von Männern wie Vogelsang und Hertling. Aber die Macht der Verhältnisse, namentlich der Zwang zu immer neuen Notlösungen nach zwei Welt

Mitbestimmungsrechts gesagt wurde, ganz zu schweigen von der Aushöhlung des Privateigentums durch die Sozialpolitik, in der man von sozialistischer Seite gleich nach dem ersten Weltkrieg geradezu den Weg zur kalten Sozialisierung sehen zu können glaubte. Tatsächlich gilt hinsichtlich der Sozialpolitik genau so wie hinsichtlich jeder anderen Staatstätigkeit das Subsidiaritätsprinzip: daß dem Staat in allem und jedem nur eine Hilfsstellung zukommt, und zwar gerade um der bestmöglichen Verwirklichung des Gemeinwohls willen. Selbstverständlich ist ausgedehnte Sozialpolitik angesichts einer die Gesellschaft schwer belastenden sozialen Frage unerläßlich. Um aber nur eines zu erwähnen: der sozialpolitische Eingriff des Staates ist nach dem Subsidiaritätsprinzip bedingt durch die verhältnismäßig schwächere Stellung

werden müßte. Nicht die sozialistisch inspirierte Sozialbewegung, die dabei nur ihren Prinzipien folgt, steht dabei hier zur Erörterung, sondern die Blickrichtung hinsichtlich der staatlichen Sozialpolitik im katholisch-sozialen Bereich.

Eng damit hängt die Situation auf dem Gebiet der eigentlichen Sozialreform zusammen. Daß der soziale Katholizismus in dieser Hinsicht alles erst zu erarbeiten hatte, zeigt vielleicht am besten die Tatsache, daß Bischof Ketteier im Gefühl der Hilflosigkeit in allem, was über die allgemeinen sittlichen Prinzipien hinausging, sich nicht scheute, sich an den damals im Sozialismus propagandistisch im Vordergrund stehenden Lassalle zu wenden. Inzwischen ist über die Grundrichtung der Sozialreform fast völlige Klärung erzielt worden, aber auch kaum viel mehr. Diese Klärung hat Einigkeit darüber ergeben, daß eine

kriegen, hat sich als stärker erwiesen. Bedenklicher erscheint indessen, daß man sich mehr und mehr abgefunden hat mit dem Gedanken: je mehr Sozialpolitik, desto besser, ungeachtet der Gefahren für die Grundordnung der Gesellschaft, namentlich auch für die soziale Ordnungsfunktion des Privateigentums. Tatsächlich herrscht heute in weitesten katholischen Kreisen die Meinung vor, je mehr sozialpolitische Eingriffe in das Privateigentumsrecht, desto besser. Man vergleiche dazu Verschiedenes, was in den letzten Jahren allein zur Frage des

jener Gruppen, denen geholfen werden muß. Das war seinerzeit die lohnabhängige Arbeiterschaft. Seither hat sich die Arbeit in so starken Verbänden organisiert und eine solche Monopolmacht erlangt, daß sie sich selbst gleich stark mit der Monopolmacht des Kapitals weiß. Gerade sozialistische Gewerkschaftsgruppen sind es aber im heutigen Staate, die die staatliche Sozialpolitik immer weiter voranzutreiben suchen, während sie längst kräftig genug zur Selbsthilfe sind und der Staat daher nach dem Subsidiaritätsprinzip entlastet

Wirtschaftsordnung im Sinne des natürlichen und christlichen Sittengesetzes von drei Prinzipien bestimmt sein müßte; ähnlich wie für die Staatsordnung drei Prinzipien gelten, das autoritäre, das demokratische und das aristokratische, das letztere als das der Auslese der Besten des Volkes für die Volksvertretung: eines der entscheidenden Probleme für die Zukunft der Demokratie, wie allgemein anerkannt ist. Auf dem Gebiet der Sozialwirtschaft sind die drei Prinzipien das der individuellen Selbst-, Verantwortung, der „gesellschaftlichen

Selbstordnung und der „staatlichen“ Ge- meinsdiaftsordnung. Individualismus und Kollektivismus vertreten einen Prin- zipiennonismus: der erstere will nur dem freien Spiel der Kräfte, der letztere nur der staatlichen Organisation eine Ordnungsfunktion zuerkennen. Beide haben sie keinen Platz für die entscheidende Ordnungsfunktion der „gesellschaftlichen' Kräfte, nämlich der kleineren Gemeinschaften, die im Wirtschaftsbereich die Berufsgemeinschaften sind. Worauf es ankommt, ist d i e Sicherung der geordneten Wirksamkeit der drei Prinzipien durch zweckdienliche Einrichtungen (Institutionen). Also nicht auf Appelle zur Gemeinschaftsgesinnung kommt es an, sondern auf die Erarbeitung von Einrichtungen, welche die Wirksamkeit der rechten Gemeinschaftsordnung auch gegenüber Widerstrebenden zu gewährleisten vermögen. In der Erarbeitung solcher Einrichtungen ist das meiste noch erst zu leisten. Konkret gesprochen: „gesellschaftliche' Einrichtungen sind zu erarbeiten, die dem Kapital nur erlauben, zu verdienen, soweit es tatsächlich für die Gemeinschaft Leistungen erbringt, die andererseits der Arbeit die Mitbestimmung im Gang der Sozialwirtschaft ermöglichen, die ihr die Gleichberechtigung mit dem Kapital in der Leitung ihres eigenen

wirtschaftlichen Geschickes im Rahmen des Geschickes der Gesamtwirtschaft gibt, zugleich aber die soziale Ordnungsfunktion des Privateigentums zur vollen Wirksamkeit bringt in der Herausholung der größtmöglichen Leistungen für die Gemeinschaft. Nadi dem Prinzip der Subsidiarität ist das Ziel klarerweise das eines Wirtschaftssystems der geordneten Freiheit, in dem Arbeit und Eigentum in gleichberechtigter Weise in der „gesellschaftlichen' Selbstordnung der Sozialwirtschaft Zusammenwirken. Das würde ein Mitbestimmungsrecht der Arbeit auf einer dreifachen Ebene ergeben: im Betrieb, im Industriezweig (Berufsgemeinschaft) und in der gesamtstaatlichen Wirtschaftspolitik, jedoch kein Mitbestimmungsrecht unter Eingriff in die soziale Ordnungsfunktion des Privateigentums durdi Mitbestimmung in der Führung der Einzelunternehmung, für die gerade unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Wohlfahrt, also namentlich auch der sozialen Lage der Gesamtarbeiterschaft, nur das Leistungsprinzip maßgebend sein kann.

Die folgenden Hinweise werden noch skizzenhafter sein müssen als die bisherigen. Das Gebiet der Sozialcaritas ist erst ganz jüngst wirklidi aufgebrochen worden. Dabei wäre an Formen der Caritas zu denken, in denen Volksgruppen in ihren kirchlichen Verbänden, wie Pfarre, Diözese, oder in den diesen zugehörigen Einzelverbänden Werke gemeinsamer Hilfeleistung für bedrängte andere Volksgruppen vollbringen. Zum Unterschied von der allgemeinen Caritas- organisation wird dabei die stärkere persönliche und Gemeinschaftsverantwortung hervortreten, während bei der ersteren in der Nächstenliebe etwas Wesentliches durch die unvermeidliche Anonymität gefährdet wird; daß von der Seite der eingelebten Caritasorganisation selbst bedeutende Schritte in der angegebenen Richtung unternommen wurden, beweist,

DIE ÖSTERREICHISCHE

FURCHE

SEITE 2 NUMMER M 27. SEPTEMBER 1952

wie die Situation selbst dazu drängt. Gewaltige Aufgaben sind einer solchen Sozialcaritas heute zweifellos durch die Wohnungs- und die damit zusammenhängende Familiennot gestellt. Sehr eindrucksvolle Werke sind in dieser Hinsicht in jüngster Zeit unternommen worden, und sofort hat sich gezeigt, was sie, weit über die unmittelbar geleistete Hilfe hinaus, in ihren seelischen Ausstrahlungen bedeuten, und zwar in sonst solchen Wirkungen völlig verschlossenen Kreisen, wie auch im Kreise derer selbst, die sich dem Ruf der Sozialcaritas erschlossen und dabei die erweckende Kraft der Liebe erfahren haben. Wenn heute noch die großen Dome, die seinerzeit mit den Gaben einer verhältnismäßig so viel geringeren Bevölkerung, und zwar gerade der kleinen Leute, gebaut wurden, noch immer weit über die sie jetzt umgebenden Bank- und Industriepaläste hinausragen, was müßte die Sozialcaritas nach der Seite der Familiensiedlung leisten können, wenn ihr Geist erst einmal voll wirksam geworden!

Nicht unerwähnt dürfen die Aufgaben auf dem Gebiet der Sozialpastoral bleiben. Gewiß, die weitaus beste Sozialpastoral ist die überall neuen Seelengrund aufreißende Einzelpastoral. Die heutige Situation ist aber nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, daß infolge der Verfestigung des Seelischen durch soziale Erfahrungen und soziale Ideologien sich die Einzelpastoral schwersten Hemmungen gegenübersieht, und daß es Sozialhäresien sind, die heute der Erfüllung des Sendungsauftrages der Kirche vor allem den Weg verlegen. Gerade über diese Sozialhäresien hört aber das Volk verhältnismäßig wenig. Wohl wird in Enzykliken und Hirtenbriefen davon gesprochen, aber in der breiteren pastoralen Lehrverkündigung in Kirche und Schule findet sich verhältnismäßig wenig davon. Ein Grund dafür liegt in der Sorge vor dem Vorwurf, daß die Politik auf die Kanzel und in den Religionsunterricht gebracht werde. Es wird also auch eine Frage der Form sein, die mit dieser Aufgabe gestellt ist. Daß es aber eine dringende Aufgabe ist, scheint unzweifelhaft.

Damit ist schon die Frage des Sozialapostolats berührt. Nach allem, was schon gesagt wurde, ist klar, daß dieses Apostolat ein undankbares ist: auf unmittelbare Erfolge ist überhaupt kaum zu rechnen, vielmehr werden höchstens späte Früchte reifen, von denen jene sicher

nichts mehr sehen, die heute säen. Kein Wunder, daß der Gedanke des Sozialapostolats trotz aller Bemühungen nicht in ausgreifenderem Maße Fuß zu fassen vermag. Auch solche, die sich mit ganzer Hingabe dem Apostolat der Seelsorge zu widmen gewillt sind, fühlen sich sehr oft in diesem Teil des Weinbergs des Herrn als völlig Fremde. Ein Zeichen der Situation: auf einer der vorbereitenden Tagungen für den Katholikentag erfolgte die Feststellung, daß Bischöfe gerne bereit wären, Priester für das Sozialapostolat freizustellen, daß sich aber niemand dazu entschließen will; ja von Theologiestudierenden, die von den höchsten Idealen bestimmt sind, ist nicht selten zu hören, daß man bereit wäre, das ganze wirtschaftliche und soziale Gebiet den weltlichen und geschichtlichen Mächten zu überlassen, die heute den unbedingtesten staatlich-sozialen Formungswillen aufweisen, wenn sie nur die Freiheit der Religion und des Gewissens verbürgen würden. Das ist das verhängnisvolle „wenn“. An nichts wird eindeutiger sichtbar, wie sehr das Sozialapostolat für die zukünftige Wirksamkeit der Kirche in unseren Ländern entscheidend ist. Daß der Herr Arbeiter in seinen Weinberg sende

Es bliebe noch der Sozialwissenschaf t und des weiten Aufgabenfeldes zu gedenken, das von ihr zu bewältigen wäre. Der soziale Katholizismus verfügt über eine sehr stattliche Anzahl von anerkannten Vertretern aller Einzelgebiete der Sozialwissenschaften. Was fehlt, ist das geschlossene starke Vorstoßen auf konkrete, fachlich-sozialwissenschaftlich gesicherte Lösungen. Zu sehr bewegt sich die Diskussion um die „grundlegenden" allgemeinen Probleme. Ein Beispiel: Schon nach dem ersten Weltkrieg stand die Eigentumsfrage im Mittelpunkt aller damaligen, vielfach sehr erregten Diskussionen, heuer, nach ziemlich genau dreißig Jahren, behandeln wieder drei führende Organisationen des sozialen Katholizismus in Österreich und Deutschland die Eigentumsfrage. Gewiß hat sich seither in der Problematik manches verschoben und wird dabei auch Neues erarbeitet. Gerade die Diskussionen um das Mitbestimmungsrecht haben eindeutig klar gemacht, daß das Privateigentumsrecht in seiner sozialen Ordnungsfunktion (gar nicht in erster Linie in seiner Schutzfunktion für das Individuum) zu sehen ist und dann eben notwendig in der innersten Wechselbeziehung dieser Funktion mit der gleichberechtigten Ordnungs-

funktion der Arbeit in der Sozialwirtschaft.

In der Tat, es ist immer noch das ungelöste Problem der modernen sozialen Frage: Wie kann der Arbeit, die der Würde der Person entsprechend an sich das ranghöhere soziale Ordnungsprinzip der Sozialwirtschaft ist, ihr ganzes Recht gesichert werden, unter gleichzeitiger Sicherung der Vollwirksamkeit der sozialen Ordnungsfunktion des Privateigentums.

Tatsächlich tritt heute, gleicherweise für Wissenschaft und Erfahrung, immer unzweifelhafter das eine hervor: daß die Vollgeltung des Privateigentums als gesellschaftliches Ordnungsprinzip geradezu die Voraussetzung dafür bildet, daß der Arbeit selbst ihre Vollgeltung als solches Ordnungsprinzip gesichert werden kann, während die Sozialisierung des Eigentums notwendig die Sozialisierung der Arbeit nach sich ziehen muß, damit aber die endgültige Untergrabung der Freiheit und Würde des Arbeiters selbst.

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