Die Suche nach dem Nürnberger Trichter

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Über einige Irrtümer der gegenwärtigen Schul- und Bildungsreformdiskussion: Sie erschöpft sich weitgehend in Struktur- und Methodenfragen, sie geht von falschen Prämissen aus, nährt populäre Illusionen. Vor allem aber hat sie das Ziel der Menschenbildung - einschließlich der ethischen und religiösen Dimension - fast völlig aus dem Blick verloren.

Seit Jahren beherrscht das Thema Bildung die politische Diskussion. Jeder Politiker, der etwas auf sich hält, jeder Meinungsmacher, der etwas gelten will, meldet sich zu Wort. Nun mag es ja erfreulich sein, dass sich eine so breite Öffentlichkeit für diese Fragen interessiert, wenn die Debatte nicht jeden Ernst ehrlichen und grundsätzlichen Denkens vermissen ließe. Kaum jemand versucht seine fantasiereichen Empfehlungen argumentativ zu begründen oder die zum Dogma erhobenen Behauptungen überhaupt zu reflektieren. Schon die Behauptung, dass etwas neu sei, gilt vielen als Nachweis für Qualität. Das Neue gilt als das Bessere: neues Lernen, Neue Mittelschule, neue Lehrerbildung, neue Lehrpläne usw. Mit der Berufung auf das Neue lassen sich die Bürger leicht an der Nase herumführen. Die Berufung darauf eröffnet den schwadronierenden Wortverkäufern in der Schul- und Bildungsreform mediale Aufmerksamkeit. Statt grundsätzlicher Besinnung lassen sich die den politisch Mächtigen und dem Zeitgeist verfallenen Medien und andienenden Schwätzer allerlei kleinkarierte und politisch erwünschte Vorschläge entlocken. Aber der Skeptiker Schopenhauer wusste schon: Das Neue ist nur selten das Gute, weil das Gute nur kurze Zeit das Neue ist. Die gegenwärtig hoffähige Pädagogik hat sich mit manchen als neu erklärten Vorschlägen geschmückt und Irrtümer verbreitet, die sie mit diktatorischem Dogmatismus zu glauben vorschreibt. Diese Fragwürdigkeiten werden kritiklos nachgebetet.

Halbbildung, die gefährlichste Unbildung

1. Der Glaube, dass mit einer Veränderung der Struktur der Schule, besonders mit der Einführung der integrierten Gesamtschule, alle oder die meisten Probleme gelöst seien. Eine gute Struktur kann hilfreich sein; aber weder empirische Belege begründen jene Hoffnung noch eine systematische Überlegung. Strukturen sind Machtgefüge, und der Glaube an sie diskriminiert den freien Geist, ein Glaube, der jede gute Reform zum Scheitern verurteilt, weil deren Gelingen wesentlich vom Engagement der handelnden Personen abhängig ist.

2. Ein weiterer Irrtum besteht in der zwar nicht direkt behaupteten, aber immer noch als möglich angesehenen Entdeckung des "Nürnberger Trichters“. Die gesamte empirische sogenannte Bildungsforschung lebt insgeheim von dieser Hoffnung, endlich jene Form pädagogischer Einwirkung gefunden zu haben, durch deren Anwendung der Erfolg so gut wie sicher scheint. Sie forscht unverdrossen nach den effektivsten Methoden des pädagogischen Einsatzes: Welche Methoden schaffen sicher und schnell erwünschtes Wissen, welche Strategien das erwünschte Verhalten?

3. Ein drittes Dogma, dessen Kritik schon fast als pädagogischer Hochverrat gilt, ist die Behauptung, wir bräuchten mehr Akademiker. Die OECD hat diese Forderung in die Welt gesetzt. Eine mögliche Begründung für diese Ansinnen könnte in dem Mangel an gut ausgebildeten Fachleuten liegen. Darin artikuliert sich ein vollständiges Unwissen darüber, was einmal mit dem Begriff des Akademikers gemeint war. Dieser unterscheidet sich vom Spezialisten dadurch, dass ihm über das Fachwissen hinaus ein Wissen vom Allgemeinen zugedacht wird. Wenn man aber damit den besonnenen, selbstdenkenden und urteilsfähigen Bürger meint, so kann dies als ein diskriminierendes Urteil über den Nichtakademiker verstanden werden.

Zur Vermehrung der Akademikerzahl hat man den "Bachelor“ eingeführt. Mit ihm kann man zwar die Quantität der Akademiker fördern, aber auch jene Halbbildung, die schon Adorno als die gefährlichste Unbildung beklagt hat. Mit dem neuen Titel gibt man den Menschen ein Attribut, aufgrund dessen sie sich wissend und gebildet wähnen, aber genau das nicht sind, weil sie nicht um ihr Nichtwissen wissen, sich aber wissend glauben.

Anstrengung und Disziplin sind nötig

4. Wir müssen uns von dem gefährlichen Irrtum lösen, als ob Schule und Bildung ohne Anstrengung und Disziplin auskämen. Ohne das Einhalten von Disziplin kann kein Unterricht statthaben. Ohne diszipliniertes Denken, ohne disziplinierte Sprache verkommt alles Lehren und Lernen zur Wortklauberei, jedes Wissen zum beliebigen Meinen. Dass die Forderung nach Disziplin nicht überall helle Freude auslöst, ändert nichts an ihrer Notwendigkeit, wenn man nicht der Faust oder der Propaganda das Feld überlassen will.

5. Der gefährlichste Irrtum ist die Behauptung, Lernen und die Anstrengung des Denkens müssten immer mit Lust verbunden sein. Es gibt schon das glückliche Gefühl des Erfolges nach den Mühen des Geistes. Aber es ist schon fast ein Verbrechen, den jungen Menschen zu versprechen, Lernen sei immer lustbetont, leicht und spielerisch. Damit übernimmt die Pädagogik jene Reklametechnik, die den Käufern einreden will, dass gerade ein bestimmtes Produkt ungetrübte Glückseligkeit verspricht; Wissen könne wie eine Ware mit entsprechenden Finanzen und ohne eigene Anstrengung im Kaufhaus erstanden werden.

6. Es ist ein Irrtum, dass Bildung in den staatlichen oder sonstigen öffentlichen Institutionen besser gelingt als in den Familien. Jede Institution repräsentiert Herrschaft und Macht, jede Institution muss ihre Mitglieder als gleich ansetzen und unterläuft das für Kinder notwendige pädagogische Prinzip der individuellen und persönlichen Zuwendung. In jeder Institution gibt es Amtsträger, gibt es Hierarchien, und es ist schon eine Merkwürdigkeit, die pädagogischen "Kompetenzen“ der Lehrerinnen und Lehrer ständig zu beklagen und die Ausweitung pädagogischer Bearbeitung vom Kleinkind an in den höchsten Tönen zu loben - verbunden mit einer unverschämten Diskriminierung der Eltern. Staatliche Hilfe sollte sich auf das Prinzip der Subsidiarität besinnen.

7. Der größte Irrtum besteht in der Vorstellung von der Machbarkeit von Bildung. Diesen Irrtum hat innerhalb unseres Kulturraumes zuletzt nur der Nationalsozialismus verbreitet, mit den schrecklichsten Folgen der Instrumentalisierung ganzer Generationen für den Krieg. Heute rüsten wir zwar nicht für den Kampf auf dem Schlachtfelde, aber man muss lernen, sich durchzusetzen. Das mag für den wirtschaftlichen Fortschritt notwendig sein, führt aber in seiner Omnipotenz zu einer Gesellschaft, in der Anstand und Rücksichtnahme, Solidarität und das Gebot der Nächstenliebe als törichte Träumerei diskriminiert werden.

Das alles hat mit einer wahren Menschenbildung nichts mehr zu tun. Die bittere Wahrheit ist: Wenn die Gesellschaft nicht wieder lernt, nach moralischen Grundsätzen zu leben und zu handeln, werden es Reformen, die mehr Menschenbildung ermöglichen sollen, schwer haben.

Orientierungslose Beliebigkeit

Hier muss auf ein Defizit in der ganzen pädagogischen Diskussion aufmerksam gemacht werden. Gemeint ist die Beachtung der Relation von Bildung und Religion. Dieses Defizit ist so groß, dass man nicht einmal mehr um diesen Mangel weiß. Andererseits beklagt die Moderne ihre Gottverlassenheit. Ohne Bezug auf Religion wird sie nämlich zur orientierungslosen Beliebigkeit, die sich als Fortschritt zum Pluralismus und zur Toleranz preist, aber gerade zu dieser keine Kraft aufbringt. Schon Kant hatte bemerkt, dass der Mensch sich einen letzten Richter denken müsse, weil er in Gefahr sei, von seinem Gewissen als Richter nur das hören zu wollen, was er will, aber nicht das hören zu wollen, was er soll.

Auch deshalb ist es viel leichter, Strukturen zu ändern, als eine ethische Neubesinnung anzumahnen. Die hätte zu beginnen mit einem Verständnis von Lehrerbildung, die mit dem Wissen auch das Ethos anregt.

* Der Autor ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Wien

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