Die Toten sind zu lebendig

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Die Opfer des Nordirland-Konflikts sind noch gegenwärtig. Nach einem Friedensschluss, bei dem keine Seite alles bekommen hat, provozieren sie die Frage, ob ihr Tod umsonst gewesen ist. Das macht das Zusammenleben der Überlebenden nicht leichter. Friede braucht Zeit: Vor zehn Jahren, am 10. April 1998, setzt das "Karfreitagsabkommen" den Friedensprozess in Nordirland auf eine Schiene, die aus dem Tunnel von Gewalt und Gegengewalt herausführt. Und vor einem Jahr einigen sich die katholischen Republikaner mit den protestantischen Unionisten auf eine gemeinsame Regierung, ewige Nein-Sager sagen zum ersten Mal: "Ja!" Aus dem Gegeneinander ist jetzt ein Nebeneinander geworden - bis zum Miteinander braucht es wieder Zeit .

Der Milltown Friedhof in Belfast wäre die perfekte Umgebung für einen Gruselfilm: hunderte mit hohem Gras, Sträuchern und Bäumen überwucherte Gräber, umgefallene, kreuz und quer liegende Grabsteine und zwei und drei und vier Meter hohe steinerne Keltenkreuze, die aus dem Totenacker emporragen. Eine Ecke des Friedhofs müsste bei dem Schocker jedoch ausgeblendet werden. Dort, wo die katholischen Opfer des nordirischen Horrors der letzten vierzig Jahre beerdigt liegen, sind die schwarzen Marmorplatten zu sehr im Lot, die Namen der Toten in Goldlettern zu blank geputzt, die Farben der Plastikblumen noch zu wenig ausgebleicht, dass einem das Fürchten käme.

Der Tod wird in dieser Ecke von Milltown-Cemetery so frisch, so am Leben gehalten, dass er seinen Schrecken verliert. Eine Folge der jahrzehntelangen Kriegspropaganda: Der Feind ist nicht der Tod gewesen, sondern die andere Seite. Angst hat man vor dem Nachbarn haben müssen, vor der gegenüberliegenden Straßenseite, vor der Polizei, vor den eigenen Schutztruppen, vor dem falschen Gast im Pub … Im Gegensatz zu diesen Gefahren ist der Tod ein Freund, wer sich mit ihm arrangiert, braucht keinen Feind mehr zu fürchten.

Gott gibt nach, Thatcher nie

"Ihr liebt das Leben, wir aber lieben den Tod." Die Lebensverachtung, die aus dem bekanntesten Satz des islamistischen Terrorismus heutiger Tage spricht, haben die grünen Hügel Irlands schon im fünften Jahrhundert gehört. Der Nationalheilige St. Patrick hat damals todesmutig seinem Christengott widerstanden und ist in Hungerstreik getreten, damit dieser seine Wünsche erfüllt. Der Allmächtige lenkt nach 45 Tagen ein. Margaret Thatcher, 1500 Jahre später, gibt auch nach 217 Tagen und zehn Toten nicht nach.

Brendan McFarlane, genannt Bik, nimmt einen Stoß der Sinn-Féin-Parteizeitung An Phoblacht (Die Republik) aus dem Kofferraum seines Wagens und trägt ihn in das Parteilokal in der Belfaster Falls Road. Biks Auto parkt vor dem Wandbild von Bobby Sands, des ersten britischen IRA-Gefangenen, der 1981 zur Durchsetzung seiner politischen Forderungen in Hungerstreik getreten und nach 66 Tagen gestorben ist. "Ich denk jeden Tag an Bobby und die anderen", sagt Bik.

"Du lässt mich sterben!"

Bevor Bobby sein Todeshungern beginnt, gibt er sein Kommando über die irisch-republikanischen Häftlinge im britischen Maze-Gefängnis in der Nähe von Belfast an Bik ab. "Weil du mich sterben lässt!", soll Bobby seine Entscheidung für Bik begründet haben. Was folgt, ist das "schlimmste Jahr meines Lebens", sagt Bik, "der Verlust von damals wird immer in mir bleiben".

Bobby Sands hat seinen Kameraden richtig eingeschätzt. Der ehemalige Priesterseminarist und nach einem Bombenattentat zu lebenslanger Haft in Maze verurteilte Bik lässt Bobby und neun weitere Gefangene verhungern - stirbt der eine, rückt ein anderer nach, sind weitere Wochen gesichert, in denen die Irisch Republikanische Armee das Vereinigte Königreich öffentlichkeitswirksam unter Druck setzen kann. Sich selbst darf Bik auf Befehl von oberster IRA-Stelle nicht zum Todesfasten abkommandieren. Der "Killer-Priester" wäre ein gefundenes Fressen für die feindliche Presse und ein Public-Relations-Desaster für die republikanische Seite gewesen. Kleinere Kämpfer-Kaliber braucht die IRA für ihre Hungerstreik-Kampagne. So einen wie Bobby Sands: Ein sympathischer 27-Jähriger, ein Musiker, ein Dichter, wegen illegalem Waffenbesitz, einem vergleichsweise kleinen Delikt, zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Aus so einer Biografie lässt sich mühelos ein Freiheitsheld basteln. Bobby hungert zwei Wochen, da stellt ihn Sinn Féin ("Wir selbst"), der politische Flügel der IRA, als Kandidat für einen frei gewordenen Abgeordnetenplatz im britischen Unterhaus auf - und Bobby Sands gewinnt die Wahl, wird "Member of Parliament" im Londoner "House of Commons" - und stirbt.

Hungerstreiker gehen aus

Der Hungerstreik gelangt zu weltweiter Aufmerksamkeit und Solidaritätsbekundungen sonder Zahl treffen in Maze ein; doch Premierministerin Maggie Thatcher bleibt auch nach diesem medientechnisch genialen Winkelzug der IRA die berühmt berüchtigte Eiserne Lady: "Crime is crime is crime", sagt sie und verweigert den IRA-Soldaten jenen politischen Status, den ihnen Großbritannien bis zu Thatchers Kriminalisierungspolitik des irischen Unabhängigkeitskampfes zugestanden hat. Am 3. Oktober 1981 muss Bik den Hungerstreik für beendet erklären - nicht freiwillig, ein katholischer Priester hat die Familien der hungernden Gefangenen gegen die IRA-Strategie aufgebracht, und es gehen ihm die freiwillig Hungernden aus.

"Ich bin nur mehr müde, Mann!", schreibt Bik einen Tag nach Ende des Hungerstreiks in einer aus dem Gefängnis geschmuggelten Nachricht auf Zigarettenpapier an seinen Kontaktmann im IRA-Hauptquartier "Brownie". Der damalige Barmann heißt mit richtigem Namen Gerry Adams und ist von diesen Tagen an bis heute Sinn-Féin-Parteichef geblieben, hat vor zehn Jahren das Karfreitags-Abkommen federführend mit ausverhandelt und im letzten Jahr seinen unerlässlichen Segen für eine gemeinsame nordirische Regierung zwischen protestantischen Unionisten und katholischen Republikanern gegeben.

Der Guardian-Journalist David Beresford, der über die damaligen Ereignisse im Maze-Gefängnis berichtet und alle geheimen Nachrichten zwischen IRA-Gefangenen und deren Hauptquartier zugespielt bekommen hat, sieht im Hungerstreik die "Wasserscheide" im anglo-irischen Konflikt. Der erfolgreiche Wahlkampf für Bobby Sands hat die IRA in eine "neue politische Richtung" gedrängt und den gemäßigten Sinn-Féin-Flügel gestärkt, sagt Beresford. Die Angst vor der Mobilisierungsfähigkeit von Sinn Féin wiederum hat London zu Zugeständnissen an John Hume und dessen nichtmilitante, nordirische Katholikenpartei "Social Democratic Labour Party" bewogen, die der spätere Friedensnobelpreisträger als Startkapital für den Friedensprozess nützen kann.

London gibt nach - inoffiziell

Den fünf Forderungen, für deren Umsetzung Bobby Sands und die anderen Hungerstreiker die Essensaufnahme bis zu ihrem Tod verweigert haben, gibt die britische Regierung offiziell nie nach; inoffiziell erfüllt sie London jedoch alle ohne viel Aufsehens nach Beendigung des Hungerstreiks: Die IRA-Häftlinge werden wieder als politische Gefangene behandelt und müssen als sichtbares Zeichen dafür keine Gefängnisuniformen anziehen. Thatchers Kriminalisierungsstrategie des nordirischen Widerstands ist gescheitert.

Brendan "Bik" McFarlane legt trotz dieses Erfolgs kurz nach dem Hungerstreik sein IRA-Kommando im Gefängnis zurück. Sein erster Ausbruchsversuch, als Priester verkleidet, misslingt; 1983 probiert er es noch einmal, dieses Mal schaffen es unter seiner Führung 38 Häftlinge in die Freiheit - der Goßteil von ihnen wird umgehend geschnappt, Bik entkommt nach Holland, wandert allerdings 1986 zurück hinter Gitter und wird erst 1997 als Zugeständnis im Friedensprozess auf Bewährung freigelassen.

Heute arbeitet der dreifache Familienvater bei Sinn Féin, engagiert sich für republikanische Ex-Gefangene und ist für sein politisches Kabarett und seine Gitarrenkonzerte berühmt. Sein Weg als 19-Jähriger vom Priesterseminaristen zum IRA-Kämpfer "war nicht der von einem Extrem zum anderen", weist Bik einen derartigen Vergleich zurück. Auch in der Theologie der 1960er Jahre seien die Benachteiligten und Unterdrückten im Vordergrund gestanden und dafür hätte auch die IRA gekämpft: "Zuerst defensiv, später offensiv", sagt Bik. Bei seinem Bombenattentat auf eine Bar im Belfaster Protestantenviertel Shankill Road sind fünf Menschen umgekommen. "Wir mussten mit Gewalt auf die Angriffe der Shankill Butchers antworten", rechtfertigt sich Bik, "die wurden ja nicht ohne Grund Metzger genannt, sondern weil sie unzählige Katholiken abgeschlachtet haben."

Kein Verrat an den Helden

Bobby Sands, an dessen riesigem Heiligenbild in der Falls Road er jeden Tag unzählige Male vorbeikommt, nennt Bik im Gespräch mit der Furche das "Fundament" des heutigen Friedens: "Bobby und die anderen Hungerstreiker sind der Grund dafür, dass wir heute eine gleichberechtigte Gesellschaft sind, wo niemand mehr aufgrund seiner Herkunft oder politischen Anschauung oder Konfession verfolgt wird. Sie sind für eine gerechte Gesellschaft gestorben - auf diesem Fundament müssen wir weiterbauen."

Aber so wie Bobby Sands und die anderen Hungerstreiker zu Katalysatoren für den Frieden auf republikanisch-katholischer Seite geworden sind, so bleiben sie nach wie vor auch Bremsklötze auf dem Weg zu einem Miteinander zwischen den Bevölkerungsgruppen. Denn der Held im eigenen Lager ist für die andere Seite ein gemeiner Mörder geblieben - und umgekehrt. Schwer genug, der Freilassung der politischen Gefangenen als Bedingung für den Friedensschluss zähneknirschend zugestimmt zu haben, ist man nach wie vor im Straßenbild Belfasts und in anderen Städten und Dörfern Nordirlands mit den Huldigungen für "die Helden der anderen" konfrontiert. Um den Hass nicht weiter zu schüren, wurden die schlimmsten Graffitis in Belfaster Protestantenvierteln übermalt. Nicht ohne dass dafür Geld aus irgendwelchen nationalen oder internationalen Friedensfonds geflossen ist. So wie sich nach einigen Recherchen in Nordirland generell der Eindruck verfestigt, dass sich die katholischen und protestantischen "Ulstermen" ihren Friedensschluss für sehr viel britisches und amerikanisches und EU-Geld haben abkaufen lassen.

Die US-Gonzo-Journalismuslegende P. J. O'Rourke hat schon bei einem Besuch in Belfast vor 20 Jahren folgenden Schluss gezogen: "Die Menschen, die auf diesem Hektar Hölle leben, sind so ausgiebig von Sozialwissenschaftlern studiert worden, dass es kaum jemanden gibt, der nicht eine Fußnote in irgendjemandes Diplomarbeit ist. Und inzwischen sind sie so medienerfahren, dass einem die Gören auf der Straße, Brauchen Sie O-Töne?' entgegenrufen und kritisch die gewählte Blende am Fotoapparat beurteilen."

Von Kriegs- zu Partyhölle

Belfast 2008 ist keine "Kriegshölle" mehr, sondern auf dem besten Weg, eine "Partyhölle" zu werden. Geschäftstüchtige Gastronomen haben der abziehenden britischen Armee Panzerwagen und Mannschaftstransporter abgekauft und zu rollenden Mini-Nachtklubs umgebaut. Die Nachfrage nach Unterhaltung ist riesig, sagt einer dieser Wirte: "Wir haben halt ziemlichen Nachholbedarf in Sachen Fröhlichsein."

Der von P. J. O'Rourke attestierte professionelle und geschäftstüchtige Umgang mit der Kriegsvergangenheit blüht aber in Belfast nach wie vor und hat sich mittlerweile sogar zu einem stark nachgefragten Fixpunkt im touristischen Angebot der Stadt entwickelt. Frühere IRA-Gefangene erklären als Fremdenführer in der katholischen Falls Road ihre Sicht des Konflikts und an der Grenze zur protestantischen Shankill Road übergeben sie die Reisegruppen an ehemalige Unionisten-Paramilitärs, die ihre Wahrheiten zum Besten geben. Von seiner Falls Road in die Shankill Road der anderen geht der ehemalige IRA-Häftling und heutige Fremdenführer Pádraic McCotter jedoch nie mit: "Ich bin alt geworden, meine Haare sind heute grau und ich habe Falten, aber ich riskiere es trotzdem nicht, dass mich dort drüben wer erkennt. Das ist immer noch ihr Land, und das hier ist unseres!"

Zehn Jahre Karfreitagsabkommen und ein Jahr gemeinsame Regierung haben auch die so genannten "Peace Walls", die man am besten als "Trennungs- und Auseinanderhalt-Mauern" übersetzt, nicht weniger werden lassen. Im Gegenteil, nach Unruhen im Herbst letzten Jahres sind sogar weitere Wälle zu den Dutzenden seit 40 Jahren bestehenden Trennlinien hinzugekommen. Denn Frieden hin, Frieden her, Nordirland bleibt gespalten. Unerwartete Sackgassen, Stacheldrähte, Mauern, Brachflächen mitten in Wohngebieten zeugen davon. Nirgends in der Hauptstadt leben Katholiken und Protestanten aus der Arbeiterklasse "freiwillig" zusammen. Wenn sie es tun, dann sind sie von üppigen finanziellen Zuschüssen dazu "überredet" worden. Aber ihre Kinder besuchen nach wie vor getrennte Schulen.

Mord ist "nur" kriminell

Im Unterschied zu früher werden Unruhen, Auseinandersetzungen, Morde jedoch heute von Politik und Polizei als "kriminelle Handlungen von Kriminellen" und nicht als politische Manifestationen qualifiziert. Am Karsamstag vor wenigen Wochen trägt Sinn-Féin-Chef Gerry Adams gemeinsam mit anderen den Sarg des IRA-Kameraden Frank McGreevy zu Grabe. McGreevy ist das dritte Opfer im katholischen Teil West-Belfasts, das innerhalb der letzten sechs Monate auf offener Straße brutal ermordet worden ist. "Lassen wir uns von Gangstern und Kriminellen unterkriegen, oder stehen wir alle gemeinsam dagegen auf?" fragt Adams am offenen Grab und fordert die Tausende Köpfe zählende Trauergemeinde auf, bei der Aufklärung dieser Gewaltverbrechen mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Dass es sich bei diesen Morden um eine verspätete Rache von nach wie vor aktiven protestantischen Paramilitärs handeln könnte, erwähnt Adams mit keinem Wort. Und dass sich die katholisch-republikanische Seite bis vor kurzem niemals an die protestantisch-dominierte Polizei gewendet hätte, spielt im neuen Nordirland ebenfalls keine Rolle mehr.

Die politischen Eliten sagen heute, es ist Friede, und die irischen wie die britischen Nordiren halten sich daran, so wie sie sich vorher über Jahrzehnte hinweg an die Kriegslosung ihrer Führer gehalten haben. Nicht einmal mehr die traditionellen Oranier Märsche zwischen Ostern und dem 12. Juli, dem Jahrestag der Schlacht am Fluss Boyne, mit der die Protestanten ihre Herrschaft über Nordirland begründen, lassen sich in Straßenschlachten umfunktionieren. Die einen provozieren nicht mehr und die anderen lassen sich nicht mehr provozieren - so einfach geht's, jetzt auf einmal, jetzt endlich. Bobby Sands hat aber weiter gedacht, mehr erhofft, als er kurz vor seinem Tod sagt: "Unsere Rache wird das Lachen unserer Kinder sein!"

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