Die Utopie des Dritten Wegs begraben

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Der Prager Frühling ist das osteuropäische Pendant zum Pariser Mai - 1968 war das Jahr der globalen Revolution über die Blockgrenzen hinweg.

Am 26. Februar 1968 übermittelt der Prag-Korrespondent der Deutschen Presse Agentur, Wolfgang Libal, seinen Bericht an die dpa-Zentrale in Hamburg und schließt mit den Worten: "In der Tschechoslowakei ist etwas in Bewegung geraten, das in einen Prager Frühling ausmünden könnte, der nicht nur musikalische Festwochen bieten würde." Der vor kurzem verstorbene Journalist Libal hat damit einen Begriff geschaffen, der von diesem Tag an als weltweite Chiffre für die tschechoslowakische Suche nach einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" steht.

Revolution der Dichter

Der langjährige Chef der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Antonin Novotny, wurde Anfang 1968 durch den eher unbekannten slowakischen Kommunisten Alexander Dubcek abgelöst. Ein halbes Jahr zuvor waren es die Schriftsteller gewesen (siehe Interview Seite 3), die erstmals offen Kritik an dem Stalinisten Novotny geübt hatten. Dubcek eilte nicht gerade der Ruf eines intellektuellen und durchsetzungsfähigen Politikers voraus, doch er umgab sich mit starken Persönlichkeiten. Seine Popularität schnellte in die Höhe, während Novotny am 22. März 1968 auch sein Amt als Staatsoberhaupt zur Verfügung stellen musste. Am 5. April 1968 verabschiedete die Partei ein "Aktionsprogramm" zur Durchsetzung der Meinungsfreiheit und Bürgerrechte.

Der Prager Frühling war das osteuropäische Pendant zum Pariser Mai 1968. Für den Hamburger Politikwissenschafter Wolfgang Kraushaar ist das mehr als eine Zufälligkeit. 1968 definiert er bei einer kürzlich veranstalteten Konferenz zum Prager Frühling in der Diplomatischen Akademie in Wien als "Jahr der ersten globalen Revolution". Und in der damals von Revolutionären westlich und östlich des Eisernen Vorhangs versuchten Verklammerung von Paris und Prag sieht er den ersten Schritt in Richtung einer Überwindung der Blockgrenzen und einen Meilenstein der europäischen Integration.

Die westdeutsche 68er-Ikone Rudi Dutschke reiste in der Zeit zu den Revolutionären nach Prag und warf ihnen vor, dass sie mit ihren Reformen letztlich den Kapitalismus einführen wollten. Die Tschechoslowaken widersprachen und versuchten Dutschke zu überzeugen, dass sie "nur" einen Kommunismus fordern, "der besser funktioniert", eine Art "sozialistischer Marktwirtschaft". Zeitzeuge Michal Reiman sagt in dem Interviewbuch "Prager Frühling", "was wir vertraten war nichts anderes als eine links-sozialdemokratische Position. Es ging darum, dass Bestehende zu demokratisieren, es durch die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien zu effektivieren".

Für Kraushaar liegt die bis in die Gegenwart wirkende Hauptbedeutung des Prager Frühlings in seinem Scheitern, denn damit wurde "die Utopie eines Dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus begraben". Der Dritte Weg? Bruno Kreisky glaubte im Prager Frühling die Sozialdemokratie als die Alternative bestätigt zu sehen, andere sahen im westeuropäischen Wohlfahrtsstaat die Verwirklichung der Ideale von Prag 1968; Anthony Giddens versuchte 30 Jahre nach dem Prager Frühling in seinem Buch "Der dritte Weg" die Erneuerung der sozialen Demokratie angesichts deren Auflösungserscheinungen eingezwängt zwischen Neoliberalismus und Globalisierung. Gerhard Schröder und Tony Blair werden ihm einige Zeit lang folgen - letztlich setzen sich Reaganomics und Thatcherismus auch in ihren Politiken durch.

Hilflos gegen Machtzyniker

Dass ein "Dritter Weg" jedoch völlig chancenlos ist, glaubt Michal Kopecek vom Institut für Zeitgeschichte in Prag nicht: "Als Historiker muss ich sagen, dass die Formen des politischen Gemeinschaftslebens, der Regierungsformen, der ökonomischen Entwicklungen in der Geschichte so viele sind, dass man nicht sagen kann, es gibt nur zwei Wege."

Prag 1968 endete in einer Sackgasse: Am 21. August wurde die Tschechoslowakei von sowjetischen, polnischen, bulgarischen, ungarischen und DDR-Truppen überfallen, die Staats- und Parteispitze nach Moskau entführt. Dubcek schrieb in seinen Erinnerungen: "Breschnjew zeigte, was er und sein Politbüro wirklich waren: Ein Haufen zynischer, arroganter Bürokraten mit einem Auftreten von Feudalherren, die schon lange niemand mehr dienten außer sich selbst".

Buchtipp:

PRAGER FRÜHLING. Gespräche über eine europäische Erfahrung. Von Dieter Segert, Braumüller Verlag Wien 2008, 242 Seiten, brosch., € 24,50

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