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Die Versuchungen des Sozialismus

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Der Sozialismus ist heute, wie er selbst bekennt und betont, nicht mehr eine uniforme, quasi kirchliche Einrichtung, eine Heilswahrheit, die auf die Bewältigung sozialökonomischer und weltanschaulicher Probleme Bedacht nimmt. Soweit etwa noch von einem einheitlichen Konzept der Sozialistischen Internationale gesprochen werden kann, geht es im Wesen von sozialökonomischen Postulaten und mit ihnen verbundenen Problemen aus und versucht, die Erörterung von Fragen der Weltanschauung aus der Partei in die private Sphäre zu verweisen. Selbst will der Sozialismus bestenfalls eine Art Humanismus sein, der seine so-zialreformatorische Haltung reflektiert.

Wohl sind in sozialistischen Gruppen Weltanschauungsfragen in Diskussion und ist der Marxismus als bestimmendes Element des Sozialismus (noch) spürbar. Die Wirklichkeit des Sozialismus als Gesamtheit, eine komplexe Vielfalt von Einrichtungen, Meinungen und Ideen, vermag aber weitgehend nur die Wirklichkeit der jeweiligen gesellschaftlichen Situation und die Wohlfahrtslage der Arbeiter widerzuspiegeln. Weil die Gesellschaft eine andere ist als ehedem, ist auch der Sozialismus nicht mehr das, was er nach dem Vorstellungsbild im Lehrbuch der Jahrhundertwende, ja nicht einmal das, was er in Österreich vor 1933 gewesen.

Der Sozialismus gibt nicht vor, daß er weltanschaulich neutral, das bedeutet, in Fragen der Weltanschauung pluralistisch sei. Er will nicht pluralistisch sein, er i s t es aber und muß es seiA Ohne die Variationsbreite, in der sich heute der demokratische Sozialismus darbietet, wäre er kaum mehr als eine Sekte und als Weltanschauung ein liebenswürdiger Anachronismus.

Je mehr der Sozialismus nach vielen Seiten hin offen sein will — und muß, um so mehr versuchen nun Kräfte, mangels Eigenmacht und ohne politischen Standort, sich des Sozialismus zu bedienen. Wenn notwendig, übernehmen sie sogar seine Formeln, jedoch ohne Absicht, anderes zu tun, als ihre eigenen, dem Sozialismus fremden Ziele zu erreichen. So erleben wir nun, daß der Sozialismus (frtllich schon seit Marx) für Angelegenheiten in Engagement genommen wird, die seinem Wesen fremd sind. Die erstaunliche Freiheit, die hinsichtlich weltanschaulicher Fragen im Sozialismus heute herrscht (man vergleiche beispielsweise nur die Septembernummer der „Zukunft“), macht es möglich, daß Kräfte in den Sozialismus einsickern, die nicht von den ethischen Grundsätzen ausgehen, die den vormarxistischen Sozialismus weithin bestimmt haben. Sicher gibt es keine sozialistische Ethik (worauf in einem ausgezeichneten Aufsatz W. Eiselt in der „Zukunft“ l/60 hingewiesen hat), aber doch einzelne Grundsätze, die das Verhalten des Sozialismus im Rahmen der Durchführung seiner sozialreformatorischen Pläne leiten. Der Sozialismus wäre nur noch eine Etikette, gäbe er bestimmte Elemente seines Denkens auf, die bisher ein Gespräch zwischen ihm und gläubigen Christen möglich gemacht haben. Heute ist der Sozialismus attraktiv, angesichts der Macht, die er innehat und zu nützen versteht, er hat eine imponierende Organisation; ihm anzugehören verheißt vielen hohes Einkommen. Mehr noch: Man kann sich mit dem Sozialismus zeigen. In den Salons.

Die entscheidende Versuchung des Sozialismus geht vom Altliberalismus linker

Prägung aus. Im Ursprung gemeinsam in der Front der Aufklärer, haben sich später der Liberalismus, der allmählich die Welt nur noch ökonomisch zu interpretieren wußte, und der Sozialismus getrennt. Der Liberalismus hat sich von seinen Freiheitsidealen, wie sie noch Naumann verkündet hatte (s. „Erneuerung des Liberalismus“), ostentativ distanziert und sich national und zuweilen auch christlich verdeckt. Nach dem Krieg entdeckten Liberale (die „clerici laici“) das gemeinsame Erbgut „der Antike und des Christentums“ (Röpke).

Nun scheint es, als ob beide Kräftegruppen wieder zueinanderfänden. Zumindest gilt das für jene Elemente im Liberalismus, die es nicht vermocht haben, sich der christlichen Demokratie anzubieten.

Wir sind zu sehr gewohnt, die altliberale Versuchung der christlichen Demokratie zu registrieren, übersehen aber, daß das, was sich als Sozialismus präsentiert, heute schon in einem beachtlichen Umfang auch auf altliberale Leitbilder hin fixiert ist, insbesondere in den heiklen Fragen der Sexualmoral. Ebenso in der Annahme, die Wirklichkeit perfekt durch den menschlichen Verstand allein beherrschen zu können, wenn notwendig, in einer „grausamen Diktatur der Vernunft“ oder mittels der „nicht minder grausamen Diktatur der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten“ (H. Walz in der evangelischen Zeitschrift „Zeitwende“ 3/1956). Sicher spielt auch die sogenannte „Verbürgerlichung“ im Sozialismus eine Rolle, die aber nur einhergeht mit einer allgemeinen Verbürgerlichung, auch solcher, die sie lebhaft beklagen und an sich nicht feststellen wollen. Daneben ist aber das Festsetzen liberaler Elemente im Sozialismus unverkennbar, eine oft groteske Verbindung der Gedanken der Vergesellschaftung mit der orthodox-liberalen Idee der absoluten Autonomie des Menschen, die von allen objektiven Bindungen freigestellt sein soll, um auf diese

Weise — durch subjektives Verhalten — objektiv Gutes zu schaffen. Derzeit „wirbt“ ein Plakat für die sozialistischen Studenten, indem es in einer gehässigen Weise einen Couleurstudenten (einen Mit-Studenten!) karikiert, der eine Leibesfülle aufweist, die nicht notwendig ein „bürgerliches Privileg“ ist. Nun vergessen aber die Studenten der SPÖ, daß die Partei unter dem Einfluß einer nicht geringen Gruppe liberaler Couleurstudenten steht, die es verstanden haben, ihren „freiheitlichen“ Komment auch im Sozialismus rein zu halten. Es wird weiter übersehen, daß die „Zukunft“, die beachtliche Qualität hat, in ihren Publikationen weitgehend linksliberalen (aber auch christlichen) Gedankengängen Raum gibt, freilich stets unter Betonung, daß die geäußerten Meinungen privaten Charakter haben.

Dagegen gibt es einige parteioffiziöse Organisationen, die nach dem weltanschaulichen Verhalten (und dem sozialen Status) ihrer Mitglieder auch jenseits des Sozialismus, dessen Ruf sie außerordentlich strapazieren, bestehen könnten. Es ist aber nicht Sache des Sozialismus, etwa zu der Frage Stellung zu nehmen, ob Gott eine Wirklichkeit, eine weltferne Möglichkeit oder eine Illussion ist.

Die zweite Versuchung des Sozialismus — eine typisch österreichische — ist die des J o s e-p h i n i s m u s. Der klassische Josephinismus proklamierte die Freiheit für die Massen, um sie, nun desintegriert, der hohen Obrigkeit gefügig zu machen. Der neue Josephinismus meint, der Kirche alle Chancen in Erziehung und Nachrichtenwesen nehmen zu müssen, um sie zu disziplinieren. In dem Versuch der Entmachtung der Kirche sind sich die Josephiner aller politischen Gruppen einig.

Liberalismus, Sozialjosephinismus und mit ihnen andere „Ismen“, die sich im sozialistischen Organisationsbereich fortgesetzt haben, rufen heute, indem sie sich zu Unrecht auf den Sozialismus berufen, die Ideen einer „zweiten“ Aufklärung und eines zweiten „Schöpfungsvorganges“ aus. Die Hoffnung einer „Selbsterlösung“ des Menschen durch den Menschen mittels der Organisationen der Gesellschaft wird lautstark als sozialistisch angesprochen, während sie in der Tat eine alte liberale Annahme darstellt, die mit dem Sozialismus, vor allem mit seinen reinsten Darstellungsformen im Frühsozialismus, kaum etwas gemeinsam hat.

Die altliberalen Elemente im Sozialismus hindern ihn daran, das zu sein, was er sein will: eine innerweltliche sozialreformatorische Bewegung, der man nicht aus weltanschaulichen Gründen, sondern um seines sozialen Standes und seiner ökonomischen Interessen wegen angehört. Tatsächlich aber wird der Sozialismus, wie anderswo die christliche Demokratie, für artfremde Zwecke mißbraucht: für Zwecke eines Kollektivismus, der nichts mit dei Sozialreform im Interesse des Menschen, sondern nur mit der Wohlfahrt von Privilegierten zu tun hat; für die Durchsetzung der Gedanken einer völlig unverbindlichen und insoweit für die positive Neugestaltung der Gesellschaft unverwendbaren amoralischen („moralinfreien“) Lebenshaltung; und für die Sicherung der ökonomischen Position von solchen, die „sozial“ sagen, aber höchstpersönliche Gewinnvermehrung meinen.

Nun ist aber der Sozialismus weder ein theologisches Anliegen, noch ist es ihm aufgegeben, ohne Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung gleichsam autonom Kulturpolitik zu betreiben, noch weniger, sich in einem Kulturkampf zu engagieren. So kann vom Sozialisten her kaum bewiesen werden, daß er notwendig der Atheismus der kleinen Leute sein müsse. Ebensowenig kann anderseits eine Einsicht in die christlichen Wahrheiten erkennen machen, daß man als Christ automatisch Sozialist sein müsse.

Wenn da und dort der aus pastoralen Gründen unvermeidbar gewordene Kontakt von Christen mit Sozialisten unterbrochen wird, so liegt das nicht so sehr an menschlichen Fehl-haltungen im Sozialismus oder an der Kirche, sondern am Einfluß jener Kräfte und Mächte, die heute durch den Sozialismus ihr • eigenes Einflußmanko decken und ihn, wie anderswo die christliche Demokratie, mißbrauchen.

Es tut daher not, daß der Sozialismus — als Partei, als Ganzes — reinlich die sozialreformatorischen wie die sozialpolitischen Grundanliegen und die Privatansichten einzelner Sozialisten trennt, wenn er nicht für Auslassungen einzelner haftbar gemacht werden soll, ganz abgesehen davon, daß der Sozialismus durch ein Allzuviel an Gesichtern nicht „allen alles“, sondern allmählich niemandem etwas' bietet und schließlich unglaubwürdig wird.

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