Die Welt gehört gehört

Werbung
Werbung
Werbung

Anmerkungen über das (Radio-)Hören. Die stillste Zeit des Jahres steht bevor - ein guter Anlass, besser hinzuhören: auf das Radio und die Welt, die es im Kopf entstehen lässt; auf Melodien, die auf rätselhafte Weise unser Innerstes berühren; oder auf den Alltagslärm, der so chronisch ist, dass Stille oft unerträglich wird. Für rund 10.000 gehörlose Menschen in Österreich ist ständige Geräuschlosigkeit Normalität. Statt die Ohren zu spitzen, beobachten sie; und statt Musik zu lauschen - erspüren sie sie. Redaktionelle Gestaltung: Doris Helmberger

Radioleute, vornehmlich jene, die für so genannte Kulturradios arbeiten, neigen gelegentlich zu einer gewissen intellektuellen Überheblichkeit. Das Fernsehen, meinen sie, sei ein dummes und verdummendes Medium. Und das habe nicht allein mit dem konkreten Programm zu tun, sondern damit, dass es sich eben um ein Bildermedium handle. Bilder bilden ab. Und sind damit tendenziell positivistisch und affirmativ. Zudem scheidet das Fernsehen alles, was nicht bebildert werden kann, aus. Das Fernsehen ist primär ein Augenmedium. Wenn im Fernsehen über Wissenschaft berichtet wird, sieht man fast immer weißbekittelte Menschen in Laboratorien, die Flüssigkeiten in Glasröhrchen füllen oder sich über Mikroskope beugen. Philosophen beim Denken zuzuschauen gibt, den Gesetzen des Fernsehens folgend, nicht allzuviel her. Allein deshalb schon ist Wissenschaft im Fernsehen im Regelfall Naturwissenschaft. Im Radio ist das anders. Was uns darauf hinweist, dass Medien ihre Wirklichkeit selbst generieren.

Ohr: Knecht des Auges

Siebzig bis achtzig Prozent aller Informationen, sagen uns Verhaltenforscher, werden über die Augen aufgenommen. Wir lesen Zeitungen und Preisschilder, taxieren Menschen, studieren Fahrpläne, gehen ins Kino oder sehen fern. Allerdings dürfte der Begriff "Information" in diesem Zusammenhang eher eng gefasst worden sein. Welche Informationen nehmen wir auf, wenn wir ein Schubert-Streichquartett oder ein Jazzkonzert hören? Welchen Informationsgewinn haben wir, wenn der Regen gegen die Fensterscheibe prasselt oder eine Katze schnurrt? Gewiss andere. Und nach gängigem Verständnis minderwertige. "Das Auge", sagte Jakob Grimm bereits im frühen 19. Jahrhundert, "ist der Herr, das Ohr der Knecht." Daher "gehorchen" wir auch. Und wer auf Rang und Ansehen Wert legt, will sehen - und vor allem: gesehen werden. Hören und gehört werden rangiert in der gesellschaftlichen Werteskala wesentlich weiter unten.

Kaum ein Zweiter hat sich mit den kulturellen, gesellschaftlichen und auch politischen Implikationen unserer "Kultur des Sehens" - im Gegensatz zu einer "Kultur des Hörens" - ausführlicher auseinandergesetzt als der frühere Jazzpapst und spätere "Vater der Weltmusikbewegung" (Die Zeit) Joachim-Ernst Berendt. Er schrieb Bücher zum Thema ("Nada Brahma" oder "Das dritte Ohr"), hielt Workshops und Seminare, produzierte Rundfunksendungen ("Muscheln in meinem Ohr") und CD-Editionen ("Vom Hören der Welt").

In allen Kulturen der Welt, wurde Berendt nicht müde zu predigen, sei das Ohr der "edelste Sinn". Es lässt sich weder verschließen noch abstellen. Der Hörsinn setzt in der menschlichen Entwicklung als erster ein - viereinhalb Monate nach der Befruchtung ist das Hörorgan bereits fertig entwickelt - und er erlischt als letzter. Nur für die Menschen des zivilisierten Westens sei mit einem Mal dieses "täuschungsanfällige, beschränkte Auge" zum "wichtigsten Sinn" geworden.

"Weibliches" Hören

Berendt begnügte sich nicht damit, dem Publikum die "Welt des Hörens" zu eröffnen. Er sah sich einem Feind gegenüber. "Sehen macht aggressiv", sagte er. Und: "Wir verstehen nur die Hälfte der Welt, wenn wir sie immer nur sehend begreifen wollen." Das Sehen entspräche dem Symbol des Pfeils. Männlich, forsch, herausdringend, zielgerichtet und aggressiv. Das Ohr hingegen ist weiblich, muschelförmig, aufnehmend und rezeptiv. Mit dem Auge erobern wir die Welt, mit dem Ohr nehmen wir sie in uns auf.

Radioleute wissen das natürlich. Und sie wissen auch, dass das Medium dann am intensivsten und am stärksten ist, wenn es nicht allein über die Ereignisse und Zustände dieser Welt berichtet, sondern wenn es Welten erschafft. Oder genauer: Wenn es mit seinen Möglichkeiten (Sprache, Geräusch, Szenen, Atmos, Musik) dem Publikum Bausteine zur Verfügung stellt, die dann im Kopf der Hörer und Hörerinnen jene Welt kreieren, die von den Machern und Macherinnen intendiert ist. Das setzt Erfahrung, Einfühlungsvermögen und eine beachtliche Gabe zur Antizipation voraus. Freilich ist diese Strategie mit einem nicht unbeträchtlichen Riskio behaftet. Welche Bilder, Gefühle und Erkenntnisse tatsächlich in den Köpfen unseres Publikums entstehen, lässt sich weder mit Gewissheit voraussagen noch kontrollieren.

Selbstverständlich ist Radio nicht gleich Radio. Die Spanne reicht von den Nachrichten bis zur Musik. Von der Diskussion bis zum Hörspiel, vom Interview bis zum komplexen Feature. Während bei den Nachrichten eine möglichst neutrale Stimme genau dafür sorgen soll, dass die gesendete und die empfangene Botschaft möglichst ident sind, wird allein schon der im Radio erschallende Ruf eines Muezzins - je nach Disposition - gänzlich andere Botschaften entfalten.

Vor allem Hörspielmacher weisen gerne darauf hin, dass das Radio gegenüber anderen Medien einen entscheidenden Vorzug hat: Es ist imstande, Innenwelten darzustellen. Es kann Gedanken, Gefühle und Reflexionen hörbar machen. Es vermittelt nicht nur Inhalte. Nicht nur was jemand sagt ist von Bedeutung, sondern auch wie jemand etwas sagt: langsam oder schnell, laut oder leise, mit gebrochener und belegter Stimme oder klar und im Brustton der Überzeugung. In seinen intimsten Momenten kann das Radio - durch Nähe und Distanz, durch Stimmführung und akustisches Design, durch verschiedene Tempi und durch Pausen - den Menschen, ihren Empfindungen und Befindlichkeiten sehr nahe kommen.

Kino im Kopf?

Wolf Haas hat, als er noch Werbetexter war, den Slogan "Ö1 gehört gehört" erfunden. Die Aufforderung zum Hören, zum bewussten Hören, das weit über die simple Informationsaufnahme hinausgeht, ist ebenso Absicht wie Programm. Radio, sagt man gern und häufig, sei eine Art "Kino im Kopf". Die Metapher ist nicht ganz unzutreffend. Doch letztlich bezeichnet auch sie nichts anderes als die Unterlegenheit des Hörens gegenüber dem Sehen. Hören ist dann gut, wenn es, wie das Kino, Bilder liefert.

Der Grazer Dichter Herwig von Kreutzbruck eröffnete seine "Narrenballade" einst mit dem schönen Satz: "Jedem Narren, stell dir vor, steht links und rechts ein Ohr hervor." Die Aufgabe von Radiomachern besteht schlicht und einfach darin, diese anatomische Chance zu nutzen.

Der Autor leitet im Programm Österreich 1 das Ressort "Literatur, Hörspiel und Feature".

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung