Die "Welt von gestern" kann nicht sterben

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Auf ein Wort

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Kurzbesuch in Warschau. Eine Buchpräsentation im Österreichischen Kulturforum. Vor den Fenstern liegt die Ulica Prozna mit den letzten Ruinenfassaden des jüdischen Ghettos. Verwüstet, geplündert. "Bis heute höre ich in meinen Gedanken Spiele und Lärm der Kinder, der Ladeninhaber, der Frauen", träumt Itzhak Katzenelson noch in Auschwitz von dieser Straße. Längst ist Stille eingetreten. Die Zeit erwies sich als unerbittlich. In manchen Fensterhöhlen stehen heute - schwarzweiß - Bilder des alten jüdischen Lebens. Zusammen mit den nackten Ziegelsteinen machen sie das Herz noch schwerer. Verstärken den Eindruck des Todes.

Der "Reichtum" der Vergangenheit

Bleibt die Ulica Prozna auch künftig ein ergreifendes Stück "Welt von gestern"? Wird demnächst ein Luxushotel hinter den kahlen Fassaden entstehen? Oder wird das lange Zögern am Ende nur den Abriss erlauben? Die Ulica Prozna ist wie ein Brennspiegel dessen, was mir - unterwegs durch Polen - so unmittelbar entgegentritt: die Brisanz des Vergangenen. Noch immer ist die Vergangenheit der große, belastende "Reichtum" des Landes: NS-Geschichte, KP-Geschichte, Widerstands- und Anpassungsgeschichte. Nichts davon ist endgültig überwunden.

Unglaublich, was da zuletzt - im Streit um ein (gemeinsames) Vertriebenen-Denkmal in Berlin - zwischen Polen und Deutschen neu aufgebrochen ist: an Schuldzuweisungen, an Verletzungen und Sprach-Verwüstung. Zeitgleich auch der Zufallsfund eines Massengrabs in Malbork (Marienburg) bei Danzig, vor den Mauern der größten Deutschordens-Festung Europas: 2000 Skelette, alles zivile Mordopfer aus dem Schluss-Furioso des Zweiten Weltkriegs. Diesmal sind es Deutsche. Ein verstörender Fund gegen Polens etablierte Geschichtsbilder: die alten Täter als Opfer.

In den Kinos ist zugleich ein Film angelaufen, der mitten ins Herz der Polen trifft: "Popieluszko. Die Freiheit in uns". Die Geschichte des jungen "Solidarno´s´c"-Kaplans aus der Danziger Werft, der 1984 vom KP-Geheimdienst entführt und ertränkt wurde. 600.000 Menschen waren bei seinem Begräbnis. Weit mehr noch sitzen nun im Kino.

Polen im Jahr 2009: In keinem anderen Land muss sich die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise so viel an Aufmerksamkeit mit der Geschichte teilen. Auch 70 Jahre nach dem deutschen Überfall von 1939 und 20 Jahre nach der "Wende" von 1989 bleibt der Blick auf die großen Nachbarn Deutschland und Russland tief im Schatten dunkler Erinnerungen.

Streit um Deutungshoheit

Und bitter beklagt der polnische Nationalstolz auch die Vergesslichkeit des Westens, der den Fall der Berliner Mauer als Stunde der großen Wende verherrlicht. Wo doch alles schon zehn Jahre vorher begonnen hatte - mit der Gründung der "Solidarno´s´c". Einmal mehr wird spürbar, dass es nichts Brisanteres gibt, als die Vergangenheit - und nichts Explosiveres als die zu lange blockierte Geschichte. Beklemmend vor allem, wie sehr der Streit um die Deutungshoheit längst vergangener Unmenschlichkeit noch die aktuelle Tagespolitik bestimmt.

Was dürfen wir vergessen? Was müssen wir bewahren? Die großen, offenen Fragen - nicht nur in Polen. Sie fliegen mit nach Hause.

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