Die Wiege des Christentums leert sich

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Überwiegend sozioökonomische Gründe führten allein in den vergangenen fünf Jahren zur Emigration von zwei Millionen Menschen.

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Überwiegend sozioökonomische Gründe führten allein in den vergangenen fünf Jahren zur Emigration von zwei Millionen Menschen.

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Düster starrt Vater Adda über den leeren Hof von Mar Mitta, einem verlassenen Kloster im Nord-Irak. Er schwärmt von den blühenden syrisch-orthodoxen Diözesen in den USA, in Australien, in Europa. Eines Tages, so hofft der Mönch, werde sich die Situation im Irak soweit verbessert haben, daß die Schafe in Scharen wieder zurückkehren. Doch wird es dann noch eine christliche Gemeinde geben, die sie wieder aufnehmen kann?

Mar Mitta beherbergte einst 7.000 Mönche. Heute harren hier nur noch zwei aus. Überall im "Fruchtbaren Halbmond", wo einst das Christentum begann, präsentiert sich dasselbe Bild. Immer mehr Christen kehren der alten Heimat den Rücken. Die "Wiege des Christentums" leert sich.

Freiheitsliebe Tag für Tag klopfen katholische Maroniten an die Pforten des großen Steinpalastes von Bkerke, hoch über der libanesischen Hauptstadt Beirut. Sie suchen Hilfe bei Kardinal Nasrallah Sfeir, damit sie das Land verlassen können, in dem ihre Vorfahren zweitausend Jahre lang lebten. Und der Kirchenvater hilft, schweren Herzens, aus Humanität. Den Aderlaß der christlichen Gemeinschaft kann er nicht bremsen. Seit Beginn des 15jährigen Bürgerkrieges 1975 hat sich die christliche Bevölkerung des Libanons halbiert. 500.000 Menschen suchten in den vergangenen 22 Jahren eine neue Heimat. "Die Maroniten lieben die Freiheit. Wenn sie sie bedroht sehen, werden sie böse", erklärt ein Geistlicher im Kardinalspalais die anhaltende Abwanderung aus dem Levantestaat. Die syrische Besatzung des Libanons, die totale politische Abhängigkeit des einst demokratischsten Staates im Orient von der Damaszener Diktatur hat vielen Christen die Hoffnung auf die Zukunft in ihrer alten Heimat geraubt. Verlassene christliche Dörfer im Libanon, einst dem einzigen Staat mit christlicher Mehrheit, zeugen von einem rasanten Exodus.

Selbst im Land, in dem einst Christus wandelte und lehrte, schrumpft die Zahl seiner Anhänger rapide. Noch vor drei Jahrzehnten waren Bethlehem oder Ramallah christliche Städte, machte die moslemische Bevölkerung dort höchstens 20 Prozent aus. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt. Emigration und niedrigere Geburtenraten der Christen sind für die Entwicklung verantwortlich. Am krassesten macht sich der Aderlaß im alten, arabischen Ost-Jerusalem bemerkbar. 1948, zur Zeit der Gründung Israels, bekannten sich dort etwa 50 Prozent der Bewohner zum Christentum, heute sind es weniger als fünf Prozent. Die Kirchenbehörden sehen die Hauptschuld an diesem Schrumpfungsprozeß bei den Israelis und der offenen Unterstützung der USA für die israelische Position im Konflikt mit den Palästinensern: Die christlichen Fundamentalisten in Amerika stellen sich voll hinter die von Israel so energisch verfochtene Idee, Jerusalem sei die "ewige und ungeteilte Hauptstadt" des Judenstaates. Diese Haltung bringt palästinensische Moslems gegen ihre christlichen Mitbürger auf. Und kein anderes amerikanisches Konsulat der Region stellt Palästinensern so bereitwilig Visa aus, wie jenes in Jerusalem.

Alle Länder des Mittleren Ostens, die arabische Welt ebenso wie die Türkei und der Iran, beherbergen christliche Minderheiten. Verläßliche Angaben über deren Zahlen gibt es nicht. Nach Schätzungen machen sie heute zwei bis vier Prozent der Bevölkerung Jordaniens aus, ebenso jener Westjordaniens und Gazas (überwiegend Griechisch-Orthodoxe und Katholiken), sowie des Irak (Chaldäer katholischen Ritus, Assyrer und Syrisch-Orthodoxe), zehn Prozent in Syrien (mehrheitlich Syrisch-Orthodoxe), 30 bis 40 Prozent im Libanon (überwiegend Maroniten) und zehn Prozent in Ägypten (fast nur Kopten). Am Nil gleichen die hohen Geburtenraten unter den Kopten den Aderlaß von jährlich Zehntausenden, die ins Ausland ziehen, weitgehend aus. In Jordanien hat sich die Zahl der Christen auf die Hälfte reduziert und im Irak nach Schätzungen dortiger Geistlicher von 750.000 vor dem Krieg um Kuwait 1990 auf 500.000. Allein in den vergangenen fünf Jahren kehrten insgesamt rund zwei Millionen Christen den Ländern der Bibel den Rücken. Die Zahl ihrer daheimgebliebenen Glaubensbrüder schrumpfte auf zwölf Millionen.

Lewis Scudder, Assistent des Generalsekretärs des in Zypern stationierten "Middle East Council of Churches" erläutert: "Es fehlt zwar jede offizielle Statistik über einen Exodus der Christen, aber wir wissen, daß es ihn gibt: Die Kirchen sind zutiefst beunruhigt, denn es sind die Jungen, die gehen. Und wenn sie gehen, wo ist dann die nächste Generation der Erwachsenen?"

"Es ist eine Ironie angesichts des tiefen Mißtrauens libanesischer Maroniten gegenüber Damaskus", fährt Scudder fort, "daß die Christen in Syrien als einzigem arabischen Staat ihre langjährige Präsenz bis heute weitgehend erhalten haben". Als Folge der brutalen Unterdrückung islamischer Fundamentalisten in der Stadt Hama, der 1982 mehr als 20.000 Menschen zum Opfer fielen, hat die syrische Gesellschaft bis heute ihren säkularen Charakter voll erhalten. Die Christen fühlen sich dort unbeschränkt als Teil der Gesellschaft. Weihnachts- und Osterzeremonien werden im staatlichen Fernsehen übertragen.

Schutz des Gesetzes Außenstehende, insbesondere auch politische Kreise in den USA, sehen häufig die Hauptursache für die rasante Abwanderung aus der Urheimat der Christen in Verfolgung und Repression durch die moslemische Bevölkerungsmehrheit. Die Israelis werfen mit Vorliebe der Palästinensischen Autonomiebehörde systematische Diskriminierung der christlichen Mitbürger vor. Und die Mißachtung der Nöte vom Bürgerkrieg aus ihren Heimen getriebener Christen durch die libanesische Regierung hat scharfe Kritik provoziert.

Doch in Wahrheit erleiden die Christen im Mittleren Osten von den Regimen ihrer Länder keine einschneidenden Diskriminierungen. So schrumpft zwar die Bevölkerungszahl stetig, doch die Kirchengemeinden führen ein aktives, lebendiges religiöses Leben. Niemand fühlt sich gezwungen, seinen Glauben zu verleugnen oder im geheimen zu praktizieren. In den Parlamenten Palästinas, Jordaniens und des Libanons sind Christen überdurchschnittlich hoch vertreten. Und in einigen Ländern des "Fruchtbaren Halbmondes" bekleiden sie auch Ministerämter.

Häufig garantieren Gesetze auch Schutz und Vorteile der christlichen Minderheit. Im Irak, ebenso wie im Iran dürfen nur Christen den äußerst lukrativen Handel mit Alkohol betreiben. Im Libanon sind die Hälfte der Regierungssitze sowie der höheren Beamtenposten Christen reserviert. Zwar beschweren sich die Christen über die meist geltenden strikten islamischen Familiengesetze, die sie zwingen, zum Islam überzutreten, wollen sie einen Moslem heiraten. Doch sie selbst dürfen innerhalb ihrer Gemeinde ihre eigenen Gesetze anwenden. In Jordanien beschloß die Regierung die Einführung des christlichen Religionsunterrichts auch an öffentlichen Schulen. Der verstorbene König Hussein, insbesondere aber auch der jetzige Monarch, Hassan, direkte Nachkommen des Propheten Mohammed, setzten sich stets energisch für einen Dialog der Konfessionen ein. Beide versäumten keine Gelegenheit, um in öffentlichen Reden der christlichen Minderheit des Wüstenreiches, die historisch als ein wertvolles Bindeglied zur westlichen Welt fungiert habe, ihre Achtung zu bezeugen. Die zweitausend Jahre alte christliche Gemeinschaft Jordaniens sieht denn auch in den Haschemiten die wichtigste Garantie für Jordaniens religiöses Mosaik. Dennoch erfüllt sie Zukunftssorgen: Was, wenn die Dynastie eines Tages zu Ende geht?

Insgesamt bleiben im Orient Diskriminierungen von Christen vielfach auf die "untere Ebene" beschränkt, haben ihre Ursache meist im Vorurteil moslemischer Mitbürger. Zwar wurden die Kopten insbesondere Oberägyptens in den vergangenen Jahren zunehmend Zielscheibe islamistischer Gewalttäter in deren Terrorkampagne gegen den Staat. Doch wehrt sich die Kirchenführung energisch gegen Behauptungen des Auslandes (insbesondere der USA), Christen würden am Nil schlecht behandelt und diskriminiert. Dennoch: die sechs Millionen Kopten dürfen ihre Kirchen nicht einmal mehr ohne staatliche Genehmigung reparieren. Für Neubauten erhalten sie die Genehmigung meist ohnedies nicht.

Im Nord-Irak klagen Priester über übereifrige Bürokraten, die den Bau von Moscheen in christlichen Dörfern anordnen. Der achtjährige iranisch-irakische Krieg und die nun schon achteinhalb Jahre währenden internationalen Sanktionen dezimierten die christliche Bevölkerung des Landes seit 1980 um knapp eine Million. Die anhaltenden, von den - christlichen - USA betriebenen Sanktionen heizten anti-christliche Gefühle im Zweistromland auf. Die Vorurteile treten mitunter ungeniert offen zutage. So forderte jüngst etwa ein moslemischer Geistlicher die Gläubigen zum Boykott christlicher Händler auf. Auf diese Weise würden die Christen in die Flucht getrieben, und die Moslems könnten - wie 1948 im Fall der verjagten Juden - deren Besitz konfiszieren; wiewohl die staatliche Polizei offiziell die Christen nicht schikaniere oder diskriminiere, verschließe sie doch die Augen gegenüber solcher Vorgangsweise moslemischer Mitbürger, klagen christliche Iraker.

Bildung & Mobilität Doch solche Probleme erklären nicht den anhaltenden Exodus. Die Ursachen für diese Bewegung reichen in die Geschichte. In Kolonialzeiten gewährten britische und französische Mandatsmächte den christlichen Minderheiten meist besondere Vorzüge, etwa indem sie sie mit Vorliebe für den Staatsdienst oder die Armee engagierten. So zogen immer mehr Christen vom Land in die Städte. Von Mönchen geführte Schulen boten weit bessere Bildung als die staatlichen Institutionen. Das Leben in der Stadt und höhere Bildung führten zu einem Rückgang der Geburtenrate. Die Zahl der Christen nahm so stets ab, und der demographische Druck stieg. Er verstärkte sich durch die beginnende fundamentalistische Welle. Viele Christen - insbesondere die jungen - zogen es deshalb vor, sich im westlichen Ausland ein neues Leben aufzubauen. Da die Christen durchschnittlich über größeren Wohlstand verfügen als ihre moslemischen Mitbürger, konnten und können sie sich die Emigration auch eher leisten. Scudder hegt keinen Zweifel: Der Exodus ist zu einem beträchtlichen Teil auf sozioökonomische Gründe und eine höhere Mobilität der Christen zurückzuführen.

Christliche Führer versuchen verzweifelt, diesen Trend zu stoppen. Kardinal Sfeir appelliert regelmäßig an seine Gemeinde im Libanon, doch den Versuchungen eines besseren Lebens in einem anderen Land zu widerstehen und der Heimat treu zu bleiben. Doch viele einfache christliche Bürger meinen, sie könnten sich Idealismus nicht leisten, auch wenn die Heimat des Christentums vielleicht in nicht ferner Zukunft keine Christen mehr beherbergt.

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