"Dieses Vokabular ist NEOLIBERAL"

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Im Buch "Lehrerdämmerung" rechnet der Philosoph Christoph Türcke mit der neuen Lernkultur ab. Ein Gespräch über Kompetenzen und Inklusion.

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Im Buch "Lehrerdämmerung" rechnet der Philosoph Christoph Türcke mit der neuen Lernkultur ab. Ein Gespräch über Kompetenzen und Inklusion.

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Schülerinnen und Schüler, die selbstständig, kompetenzorientiert sowie in inklusiven Gruppen lernen und dabei von "Lernbegleitern" unterstützt werden: Für die meisten Bildungspolitiker und Pädagogen sieht so die Schule der Zukunft aus. Für Christoph Türcke, ehemaliger Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, führt dieser Weg hingegen geradewegs in die Irre. Warum, hat der streitbare Autor in seinem neuen Buch "Lehrerdämmerung" beschrieben.

DIE FURCHE: Herr Professor Türcke, Sie kritisieren die "neue Lernkultur" unter anderem deshalb, weil sie Lehrer zu bloßen "Lernbegleitern" degradiere. Ist das ein Plädoyer für den alten Frontalunterricht?

Christoph Türcke: Nein. "Frontalunterricht" bedeutet ja für die meisten so viel wie: Da steht ein autoritärer Sack vor der Klasse, der alles diktiert und vormacht. Gegen einen solchen Unterricht gab es in den 1970er-Jahren wohlbegründete Einwände, und man sollte auch heute vernünftigerweise dagegen sein. Mittlerweile wendet man sich aber schon gegen jede Form des Plenarunterrichts, bei dem einer Gruppe gemeinsam ein Sachverhalt eröffnet wird - und das, obwohl das Lernen in solchen Phasen durch einen gewissen Synergieeffekt viel intensiver sein kann als in der Einzelarbeit, auch deshalb, weil Lehrer anders und intensiver sprechen, wenn sie vor einer Gruppe stehen. Ich nenne das "gemeinsame Jetztzeit". Doch der neoliberale Trend mit seinem Zwang zur Flexibilisierung aller Lebensverhältnisse geht in die andere Richtung -und denunziert jegliches Plenum. Wenn man das konsequent durchzieht, endet man bei babylonischer Sprachverwirrung. Warum sollen alle noch die gleiche Grammatik und Schrift lernen?

DIE FURCHE: Zumindest an Österreichs Schulen hat man nicht den Eindruck, als ob nur noch individualisiert gelernt würde. Müssen Sie sich nicht den Vorwurf gefallen lassen, heillos zu übertreiben?

Türcke: Natürlich gibt es - zum Glück - noch an vielen Schulen Plenarunterricht. Aber die Tendenz geht eindeutig in die andere Richtung, das zeigt sich derzeit etwa in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen. Dort hört man Schüler schon klagen: "Wann können wir denn wieder einmal Frontalunterricht haben?" Kluge Lehrer gehen darauf ein oder setzen die neuen Vorgaben ohnehin nicht eins zu eins um, aber es gibt auch viele, die sich von dem ganzen neoliberalen Schmeichelvokabular einwickeln lassen.

DIE FURCHE: Ein Wort aus diesem "Schmeichelvokabular", wie Sie es nennen, ist "Kompetenz". Was ist daran so schlimm?

Türcke: Das Wort "Kompetenz" heißt eigentlich Sachverstand und dagegen kann niemand etwas haben. Aber beim Sachverstand ist das Entscheidende eben die Sache, durch die der Verstand gebildet wird -, und gerade die Sachen fallen in vielen Bildungsplänen zunehmend heraus. Das beginnt schon damit, dass die definierten "Kompetenzen" gar nicht den Konkretheitsgrad haben, den sie suggerieren. Wenn etwa verlangt wird, dass man "einen komplexeren Text wiedergeben, anwenden und reflektieren können" muss, dann sind das ja nur Wortblasen. Meine Hauptkritik zielt aber darauf ab, dass "Kompetenz" nur noch als jenes Verhalten definiert wird, das im gesellschaftlichen Arbeitsprozess einsetzbar ist. Und die Sachen sind das Schmiermittel dazu. Diese behavioristische Verkürzung des Kompetenzbegriffs führt tendenziell zu einer Maschinisierung des Menschen.

DIE FURCHE: Inwiefern?

Türcke: Insofern, als Maschinen wahre Könner sind. Sie können Programme perfekt ablaufen lassen -aber sonst nichts. Menschliches Lernen hingegen ist vor allem eine emotionale Angelegenheit. Kleinkinder fangen an, etwas zu lernen, weil sie sich von den Eltern oder anderen Bezugspersonen, zu denen sie eine tiefe Bindung haben, auf verschiedene Dinge hinweisen lassen und dann ihrerseits Interesse gewinnen. Erst allmählich versachlicht sich dieses Interesse und emanzipiert sich von den Personen, die einem etwas zeigen. Doch diese ganze Frühgeschichte des Lernens wird beim modernen Kompetenzkonzept ausgeblendet. Man tut so, als seien Sieben-oder Achtjährige zu rein rationalem, selbstgesteuertem Wissenserwerb in der Lage.

DIE FURCHE: Ihr Lieblingsgegner in dieser Frage ist der Philosoph Richard David Precht, der im Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott" die unbändige, kindliche Neugier betont

Türcke: Ja, denn Kinder sind nur in vertrauter Umgebung neugierig. Dann fängt das Fremde an, nicht mehr zu ängstigen, sondern interessant zu werden. Aber so zu tun, als seien Kinder von Natur aus neugierig und im Zuge der Erziehung nur verbogen worden, ist ein aufgekochter Rousseauismus, der den kindlichen Naturzustand verklärt. Und dagegen wende ich mich genauso wie gegen den Precht'schen Begriff der Bildungsrevolution, hinter dem vor allem eine neoliberale Revolution steckt.

DIE FURCHE: Precht würde sich gegen diesen Vorwurf wohl verwahren -wie auch dagegen, Inklusion als "neoliberales Projekt" zu bezeichnen, wie Sie das tun. Wie kommen Sie darauf?

Türcke: Auch hier macht der ursprüngliche, lateinische Begriff so manches deutlicher. "Inclusio" heißt nämlich Einschließung, Einsperrung. Und tatsächlich ist Inklusion etwas, was von ganz oben, von den Vereinten Nationen, eingeleitet und nicht von der Basis erkämpft wurde. Nun kann natürlich niemand etwas dagegen haben, wenn in der Behindertenrechtskonvention steht, dass Menschen mit Behinderungen an allen sozialen Prozessen voll beteiligt werden sollen. Aber es ist leider nicht so, dass Inklusion tatsächlich zum Ende sozialer Ausgrenzung führt. Faktisch bekommen behinderte Kinder in inklusiven Klassen hautnah zu spüren, was sie alles nie werden tun können; sie machen eine Erfahrung, die weitaus schmerzlicher ist, als wenn sie in bestimmten Zusammenhängen gewisse Schonräume hätten. Inklusion wird hier also zu einer allgemeinen Einschließung in einen Raum, aus dem es kein Entrinnen gibt.

DIE FURCHE: Sie wollen also zum separierten System mit Sonderschulen zurück?

Türcke: Nein, ich plädiere für Mischformen, in denen die wechselseitige Erfahrung von Verschiedenheit gemacht werden kann und zugleich deutlich wird, dass bestimmte Dinge sich schlicht und einfach nicht für eine gemeinsame Beschulung eignen. Zudem versprechen sich viele Politiker von der Inklusion enorme Einsparungseffekte, während die Lehrer, die sich diesem Projekt mit viel Engagement widmen, darin eine Art Schulklassenkommunismus sehen, der leider noch unter Anfangsschwierigkeiten leidet. Wenn sie merken werden, dass die angeblichen Kinderkrankheiten der Inklusion faktisch ihr Realitätsprinzip sind, werden Enttäuschung und Burnout die Folge sein.

DIE FURCHE: Sie fordern demgegenüber eine "Rückbesinnung auf den Lehrer". Wie sollte ein Unterricht aussehen, der Lehrkräften wie auch Kindern gerecht wird?

Türcke: Seine Achse muss das Plenum sein, in dem eine Lehrperson Sachverhalte eröffnet. Daran muss sich dann natürlich Anderes anschließen: Diskussion, Gruppenarbeit, Variation, Improvisation. Aber wenn unter dem Vorwand, die Kinder selbstständig werden lassen zu wollen, diese Achse völlig entfernt wird und jeder allein vor sich hinarbeitet, dann ist das so, wie wenn man dem Unterricht den Stecker zieht.

DIE FURCHE: Wenn also Lehrerinnen und Lehrer so zentral sind - welche Persönlichkeit müssen sie dann mitbringen?

Türcke: Ein hohes Maß an Empathie für die Schüler und Begeisterung für die Sachen, die eröffnet werden. Das sind die beiden Angelpunkte. Ich weiß, dass man das nicht einfach erzwingen und nur begrenzt lehren kann. Aber was auch nicht geht, ist, so etwas wie Empathie als Kompetenz zu definieren. Denn bleibt bloß ein Gerippe von ihr übrig.

Lehrerdämmerung

Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet.

Von Christoph Türcke. Beck 2016.159 Seiten, kart., € 15,40

Das Gespräch führte Doris Helmberger

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