Fehlende Weitsicht  - Algorithmen verfestigen die eigenen Positionen. Diskurs im Sinne der Agora des antiken Griechenlands findet dadurch nicht mehr statt. - © Bild: iStock/kentoh

Digitale Transformation: „Der Mensch darf irren“

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Die digitale Transformation wirft die Frage nach ethischer Verantwortung auf. Eine Verantwortung, der wir uns alle stellen müssen, meint Ethiker Thomas Gremsl im Gespräch.

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Die digitale Transformation wirft die Frage nach ethischer Verantwortung auf. Eine Verantwortung, der wir uns alle stellen müssen, meint Ethiker Thomas Gremsl im Gespräch.

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Hass im Netz, Filterblasen, Algorithmen: Seit dem Suizid der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr stehen ethische Fragen zur Digitalisierung verschärft im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Algorithmen bestimmen unseren Alltag, die sozialen Medien werden so schnell nicht mehr verschwinden, und künstliche Intelligenz (KI) ist auf dem Vormarsch. Doch wo bleibt in dieser digitalen Welt der Faktor Mensch? Zu dieser Frage forscht Thomas Gremsl. Der 28-Jährige ist Professor für Ethik und Gesellschaftslehre an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Graz und leitet das Ethiklabor der Universität. Im Interview spricht er über Herausforderungen der digitalen Transformation, Lösungsansätze und ethische Antworten auf die gegenwärtigen Fragen.

DIE FURCHE: Herr Professor Gremsl, vor welche ethischen Herausforderungen stellt uns die digitale Transformation?

Thomas Gremsl: Wir unterliegen immer mehr den Paradigmen der digitalen Welt: Viele meinen, dass Technik absolut und perfekt ist, dass sie alles besser kann als der Mensch. Dabei ist es ein riesiger Unterschied, ob eine Maschine ein Ding besser kann als der Mensch oder – wie bei künstlicher Intelligenz – sich dem Menschen mit ihren Fähigkeiten immer mehr annähert und verschiedene Dinge machen kann. Die Technologien werden immer komplexer und besser und stellen den Menschen dann vor die große Frage, wie man mit ihnen umgehen soll. Wir müssen im Leben viele Entscheidungen treffen, und das ist in einer immer komplexeren Welt nicht einfach. Man ist geneigt, die neuen Tools, die mit KI geschaffen werden, zurate zu ziehen. Im beruflichen wie im privaten Setting.

DIE FURCHE: Was unterscheidet den Menschen noch von der Maschine?

Gremsl: Der Mensch kann sich auf Werte ausrichten und diese in der Gesellschaft anwenden. Das ist die zentrale Rolle des Menschen, die er wahrnehmen darf und muss. Aber der Mensch darf auch Fehler machen, irrational entscheiden. Es geht nicht darum, perfekte Ergebnisse zu erzeugen, dass kann auch die Maschine nicht – sie ist fehlerhaft, weil sie von ebenso fehlerhaften Menschen gemacht ist.

DIE FURCHE: Die Menschen, die der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr mit Mord gedroht haben, haben sich unter anderem in sozialen Medien radikalisiert. Sind Algorithmen ein Brandbeschleuniger für die Spaltung der Gesellschaft?

Gremsl: Algorithmen sind die Adern der digitalen Sphäre, sie geben dem Ganzen seine Struktur. Algorithmen sind in der Regel noch immer menschengemacht, sie folgen einer gewissen Logik, und es entstehen dadurch Paradigmen, diese können als Brandbeschleuniger, als Katalysatoren auftreten. Weil sie zum Beispiel als Plattform vielen Menschen die Möglichkeit geben, zu einem bestimmten Thema Stellung zu beziehen, zusammenzukommen, tätig zu werden.

DIE FURCHE: Und so entstehen dann Filterblasen und Echokammern?

Gremsl: Diese Filterblasen und Echokammern sind sehr prägend für Social Media, und sie tragen zur Polarisierung bei, sie sind Paradigmen der digitalen Sphäre. Informationen werden aufgrund des eigenen Surfverhaltens vorgefiltert: Der Algorithmus zeigt einem vor allem ähnliche und gleiche Meinungen, man festigt sich immer mehr in der eigenen Position. Man denkt, dass alle gleich denken wie man selbst. Es kommt zu keinem Austausch, die Pole verhärten sich. Der Diskurs im Sinne der Agora (=Marktplatz) im antiken Griechenland findet damit nicht mehr statt, auch wenn soziale Netzwerke suggerieren, diese Agora zu sein. In diesen Netzwerken findet sehr massiv Meinungsbildung statt, aber oft ohne die notwendige Reflexion, ohne sich auch anderen Perspektiven stellen zu müssen. Aber man darf Algorithmen auch nicht ganz verteufeln, diese Systeme ermöglichen auch sehr viel Gutes, sie sind weder nur positiv noch nur negativ.

DIE FURCHE: Wie holt man die Menschen aus diesen Echokammern wieder heraus?

Gremsl: Ein wesentlicher Ansatzpunkt ist Medienkompetenz. Wir haben vor einigen Wochen gehört, dass es ein neues Unterrichtsfach geben wird, Digitale Grundbildung. Aber wie erreichen wir diejenigen, die nicht mehr in die Schule gehen, die Eltern- und Großelterngenerationen? Die sind auch digital unterwegs, aber nicht damit aufgewachsen. In der digitalen Sphäre wird Meinungsbildung betrieben, Unternehmen und politische Parteien wissen das, aber viele Menschen, die das Angebot nutzen, sind sich dessen nicht bewusst. Das hat Auswirkungen auf den Alltag, auf das Wähler(innen)verhalten, auf das Gesellschaftsganze. Wir haben in der Klimakrise ein gewisses Grundbewusstsein entwickelt, dass hier eine Krise existiert, dass Handlungen notwendig sind. Dieses Problembewusstsein haben wir bei der Digitalisierung noch nicht entwickelt. Digitalisierung ist noch immer sehr positiv konnotiert, das ist auch gut, es gibt viele positive Aspekte – aber man darf nicht blauäugig sein. Wir brauchen eine Sensibilisierung hinsichtlich der riesigen Gefahren, die mit ihr einhergehen.

DIE FURCHE: Wie können wir die negativen Nebengeräusche der digitalen Transformation verringern?

Gremsl: Wir müssen die negativen Nebengeräusche umfassend aufs Tapet holen. Das haben wir mit dem Fall Kellermayr gesehen, es wurde über Hate-Speech und Hass im Internet diskutiert. Wir sehen, dass wir immer nur hinterherhinken können: 2007 wurde das erste iPhone präsentiert, das ist nicht so lange her, jetzt sind wir bei selbstfahrenden Autos, Drohnen, die Pakete ausliefern, und manche sprechen von autonomen Waffensystemen. Diese Herausforderungen aufs Tapet zu holen mit der Ernsthaftigkeit, die sie verdienen, das ist ganz wesentlich. In Ansätzen passiert es, aber noch immer zu wenig.

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