Jüngel - © picturedesk.com / SZ-Photo / Urban, Marco

Eberhard Jüngel: Altes in neuen Worten sagen

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Ein wortgewaltiger Theologe des Wortes: Nachruf auf den großen evangelischen Denker und Prediger Eberhard Jüngel, der am 28. September im 87. Lebensjahr verstorben ist.

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Ein wortgewaltiger Theologe des Wortes: Nachruf auf den großen evangelischen Denker und Prediger Eberhard Jüngel, der am 28. September im 87. Lebensjahr verstorben ist.

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Universität Tübingen, Anfang der 1990er Jahre: Der Endfünfziger Eberhard Jüngel schleppte sich mit Mühe ans Pult des größten und gut gefüllten Hörsaals. Was den renommierten Gelehrten im dunklen Anzug plagte, blieb unklar. Denn einen Moment später begann ein Schauspiel, wie es nur wenige Professoren zu inszenieren verstehen. Mit einem Schlag war der Ironiker Jüngel gesundet, führte mit stupendem Wissen, gedanklicher Präzision und rhetorischer Brillanz durch die unterschiedlichsten Felder der Dogmatik und Religionsphilosophie. Wer bei ihm studierte, lernte die Unterscheidung der Begriffe, die Klarheit des Lesens und verstand, dass Theologie Aufklärung über Gott und sein Evangelium ist. Ein Bildungserlebnis.

Tübingen war in der alten Bundesrepublik ein Mekka der Theologie beider Konfessionen. Hier forschten Jürgen Moltmann, Hans Küng, Joseph Ratzinger, Walter Kasper, ebenso der kirchenpolitisch einflussreiche Rhetorik-Professor und Schriftsteller Walter Jens. Jüngel war der vielleicht stilistisch brillanteste dieser großen Denker. Er schaffte es, Hörsäle zu füllen, Messehallen bei Kirchentagen, als Prediger auf der Kanzel zu begeistern, von Berufsverbänden eingeladen zu werden, medial präsent zu sein. Er mutete seinen Hörern „theologisches Schwarzbrot“ zu, nicht lebenspraktischen Toast à la Margot Käßmann oder Anselm Grün.

Um Wahrheit und Freiheit – in der DDR

Geboren 1934 in Magdeburg, wuchs Jüngel in der DDR auf. Das Streben nach Wahrheit und Freiheit wurde auch deshalb zu seinem Lebensmotto, weil der sozialistische Staat genau dies unterband. In der DDR gab es, so erzählte er gerne, nur zwei Orte, an denen die Wahrheit gesagt wurde: die Kirche und das Kabarett. Jüngel entschied sich – trotz theatralischer Begabung – für Kirche und Theologie, auch um den atheistischen Vater zu ärgern. Weil er sich Kritik nicht verbieten lassen wollte, flog Jüngel einen Tag vor dem Abitur vom Gymnasium, holte auf einer evangelischen Schule die Reifeprüfung nach, studierte an den Kirchlichen Hochschulen Naumburg und Ost-Berlin, dem sogenannten „Sprachenkonvikt“. Diese kleinen Seminare galten als Orte präzisen Quellenstudiums und der geistigen Auseinandersetzung mit der DDR-Gesellschaft, brachten nicht zufällig viele Bürgerrechtler der Friedlichen Revolution hervor.

Die DDR war Jüngel nie genug. 1957 simulierte er einen Nervenzusammenbruch, ließ sich für ein Semester beurlauben, stieg aber ins Flugzeug, um in Zürich und Basel zu studieren. Dort begegnete er dem großen Schweizer Theologen Karl Barth, dessen Wort-Gottes-Theologie er später mit der lutherischen Rechtfertigungslehre und der hermeneutischen Schule Rudolf Bultmanns zu verbinden versuchte – ein Versuch, den damals nur wenige unternahmen.

Nach Promotion und Habilitation sammelte Jüngel Lehrerfahrungen am Sprachenkonvikt. 1966 erhielt er einen Ruf nach Zürich, dessen Annahme die DDR-Behörden sogar genehmigten. 1969 akzeptierte er ein Angebot der Universität Tübingen, der er zeit seines Lebens treu blieb. Hier entstand 1977 sein Hauptwerk „Gott als Geheimnis der Welt“, hier verstarb er am 28. September 2021. Zu seinen vielen Ehrungen zählen nicht nur Ehrendoktorate, Preise und Mitgliedschaften in Akademien, sondern ab 1992 auch die Berufung in den „Pour le Mérit für Wissenschaft und Künste“, Deutschlands akademischen Olymp, dem er 2009–2013 als Kanzler vorstand.

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