Ein fauler Friede ist besser als kein Friede
Die Ereignisse am Balkan verleihen der Lage in Kambodscha zusätzliche Aktualität: Wie bewältigt ein vor Jahrzehnten zerrissenes und geschändetes Land seine Vergangenheit? Der Buddhismus, aus dem Südostasien seine Identität schöpft, lehrt hierzu: Vergessen und Verzeihen.
Die Ereignisse am Balkan verleihen der Lage in Kambodscha zusätzliche Aktualität: Wie bewältigt ein vor Jahrzehnten zerrissenes und geschändetes Land seine Vergangenheit? Der Buddhismus, aus dem Südostasien seine Identität schöpft, lehrt hierzu: Vergessen und Verzeihen.
"... vergangene Gedanken sind unfaßbar; zukünftige Gedanken sind unfaßbar; gegenwärtige Gedanken sind unfaßbar..." (aus dem buddhistischen Diamantensutra ca. 350 n.Chr) Es war kurz nach dem chinesischen Neujahrsfest, in welchem der Hase den Tiger ablöste, als wir den ranghöchsten buddhistischen Mönch im Königreich Kambodscha trafen, den mehrfach für den Friedensnobelpreis nominierten Maha Ghosananda Bhikku, dessen Name "die ehrwürdige und gute Nachricht, - bettelnd" bedeutet.
Seit 1978, als die maoistisch-rassistischen Khmer Rouges von den nach Westen expandierenden marxistisch-leninistischen Vietnamesen überrannt und okkupiert wurden und einen gewaltigen Flüchtlingsstrom nach Thailand auslösten, arbeitet der 74jährige Buddhist an der nationalen Versöhnung: er marschiert und meditiert.
Österreich hatte zu keiner Zeit diplomatische oder missionarische Beziehungen mit dem Königreich in Südostasien, wenn man von dem um 1318, kurz nach Marco Polo, von Kärnten nach Peking wandernden Franziskanermönch Oderich von Portenau absieht (vergleiche Furche 4/1999).
Angkor Wat, die Hochblüte der Khmerkultur und das größte religiöse Bauwerk der Menschheit, hatte unter dem Gottkönig Jayavarman VII. rund 100 Jahre zuvor seinen Zenit überschritten und wird nicht in dessen Reisebericht (verfaßt 1330) erwähnt. Oderich marschierte weiter östlich durch das längst verschwundene Königreich Champha zum Mongolenkaiser von China.
Geopolitisch liegt der heute wieder zehn Millionen Einwohner zählende Staat eingebettet zwischen dem pro-westlich, das heißt: USA-orientierten Thailand, welches die Westgrenze, und den sozialistischen Staaten Laos und Vietnam, welche die Nord- bzw. Ostgrenzen bilden; außerdem fließt der Mekong, die "Donau Hinterindiens", quer durch das Land.
Die religiös-kulturelle Verwandtschaft mit den Theravada-Buddhisten in Thailand und Laos nützte ebenso nichts wie die 1955 im Alleingang proklamierte militärische Neutralität um den Staat, nach Abzug der französischen Kolonialmacht, vor einem 20 Jahre dauernden Krieg zu bewahren: Kambodscha wurde, zumindest nach 1960, unfreiwillig, immer tiefer in den zweiten Teil des Indochinakrieges verstrickt.
Der Vietkong benutzte das flache Land, um Nachschub in Richtung Saigon zu transportieren, amerikanische Flugzeuge bombardierten in 3.630 Einsätzen, "missions", 14 Monate lang, die Zivilbevölkerung im Osten. Wenn man - was nicht unproblematisch ist - den Kommunismus als eine "säkulare Religion" ansieht, so wäre eine mögliche Deutung für den beispiellosen Genozid, den zivilisatorischen Kurzschluß der danach, ab 1975, in Kambodscha geschehen ist durch den Umstand erklärt, daß sich auf vergleichsweise engem Raum, in der fruchtbaren Mekongebene, zwei politisch-dogmatische Ideologien, hochgeladene "Schaltkreise", nämlich Marxismus-Leninismus und Maoismus nach der Kulturrevolution, berührten, zumal die "Sicherung", der historisch auch als antikolonialistisch, jedenfalls antirassistisch zu interpretierende "Amerikanismus" nach dem Zweiten Weltkrieg durch das militärische Desaster und den panikartigen Rückzug der unmotivierten GI's aus Saigon, in der ganzen Region Südostasien abhanden kam.
1.500.000 in den Tod Hinzugerechnet werden muß die traditionelle Abgrenzung und kulturelle Feindschaft zwischen Khmer und Vietnamesen, sodaß Angka ("die Organisation"), wie sich die politische Führung der roten Khmer selbst nannte, sofort nach der Machtübernahme im April 1975 mit Grenzstreitigkeiten seinen noch kurz vorher guerillataktisch Verbündeten, den marxistisch-leninistischen Vietnamesen de facto den Krieg erklärte. Das Ergebnis ist bekannt: fast ein Viertel der damaligen Bevölkerung, etwa eineinhalb Millionen Menschen, vornehmlich die geistig-intellektuelle Elite des Landes, wurde, weil zur Agrar-Revolution nicht "umerziehbar", getötet, zu Tode gefoltert, der Großteil starb an den Entbehrungen der Zwangsarbeit auf den Reisfeldern.
Schon Anfang 1980, als die Khmer Rouges noch heftigst im Westen des Landes einen militärisch aussichtslosen Verteidigungskrieg führten und die Vietnamesen fast das ganze Land besetzten, wurde ein "internationales Tribunal" zur Klärung der politischen Verbrechen veranstaltet, über das heutzutage niemand mehr spricht. Dabei wurde die komplette Khmer Rouge Führung - Pol Pot, Khieu Samphan ... - in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Tatsächlich wurde bisher kein einziger Roter Khmer, außer dem im März verhafteten Ta Mok ("The Butcher" - der "Fleischer") nur irgendwie zur Verantwortung gezogen. Im Gegenteil: Ieng Sary, einer der ranghöchsten Militärkommandanten, wurde ein Art Landeshauptmann in der Provinz Pailin, ein Gebiet mit halbautonomem Status, in das sich nun praktisch alle und die bis zuletzt kämpfenden Khmer Rouge zurückgezogen haben.
Auch "nominal leader" Khieu Samphan und der Chefideologe Noun Chea wurden vom jetzigen, demokratisch gewählten Staatspräsidenten Hun Sen gastfreundlichst in Phnom Penh empfangen und leben derzeit, völlig unbehelligt von ihrer Massenmördervergangenheit, legal, als "graue Panther" und Pensionisten in Pailin. Zuletzt lehnte der Außenminister Kambodschas ein Angebot von UN-Generalsekretär Kofi Annan zur Einleitung eines internationalen Tribunals höflich, aber eindeutig ab.
Die politisch auch operettenhaft anmutenden Verknüpfungen der jetzt in der wiedereingeführten konstitutionellen Monarchie Regierenden mit den Steinzeitkommunisten von 1975-79, reicht von König Norodom Sihanouk, einem "frühen" Khmer-Rouge-Symphatisanten, als er vom Exil in China gemeinsam mit den Roten Khmer gegen das vom CIA eingesetzte Lon-Nol-Regime kämpfte, bis zu dem wesentlich jüngeren Staatspräsident Hun Sen, einem Khmer-Rouge-Aktivisten und Dissidenten der "ersten Stunde", der zu den Vietnamesen überlief, um das Land vom Terrorregime zu befreien.
Insofern wären sicherlich alle glücklicher und zufrieden, wenn die Dämonen der jüngeren Vergangenheit, die bis 1998 hartnäckig militärisch kämpfenden Khmer-RougeFührer, die mindestens 70 Jahre und älter sind, ähnlich wie Pol Pot, an einem nicht näher geklärten "Herzversagen" dahinscheiden würden.
Sehr viel politische Taktik spricht auch dafür, anstelle die unangenehme Aufarbeitung der jüngeren Geschichte zu bewerkstelligen, diese, ohne eine politische Tat zu setzen, einfach zu verdrängen. Der historische Schuldanteil der US-Strategen, die Befehl erteilten, das immerhin neutrale Land zu bombardieren und dadurch die Khmer-Rouge-Guerilla besonders bei der Landbevölkerung anfangs stärkten, müßte dabei ebenso wie die Rolle Chinas, die die einzigen Verbündeten des Mörderregimes waren und nun der wichtigste Wirtschaftspartner Kambodschas werden könnte, in einem asiatischen Kontext, das heißt ohne daß jemand sein Gesicht verliert, zur Sprache kommen. Besonders von den westlichen Großmächten läßt sich sagen, daß diese in extremer politischer Kurzsichtigkeit und sicherlich aufgrund der militärisch blamablen Niederlage der USA im Vietnamkrieg, das Horrorregime Pol Pots als legale Regierung Kambodschas jahrelang bis in die achtziger Jahre anerkannten und mit einem UN-Mandat legitimierten. Ein Statement von Hun Sen lautet: "Kambodscha darf nicht Palästina werden". Damit hat er das Problem der kulturellen Differenz zwischen buddhistischem Denken und westlicher "Vergangenheitsbewältigung" vielleicht unbewußt, aber doch voll getroffen. In einem überwiegend buddhistisch geprägten Land würde der Sinn und die Bedeutung der alttestamentarischen Moralformel "Aug um Aug - Zahn um Zahn", nämlich ein Maß und somit eine Art von Gewaltbegrenzung zu sein, höchstwahrscheinlich mißverstanden und uminterpretiert werden.
Mörder im Hotel Buddhistische Kulturen denken in ewig-wiederkehrenden Kreisläufen beziehungsweise setzen solche voraus. Auch staatlich-legitime Gewalt für die nach europäischen Maßstäben fraglos zu verurteilenden Politverbrecher bringt nach buddhistischem Verständnis von Ursache und Wirkung naturgemäß und in jedem Fall eine neue Form von Gewalt hervor. Demnach ist ein fauler, noch so ungerechter Frieden hundertmal besser als keiner.
Als die beiden Massenmörder Khieu Samphan und Noun Chea im Jänner 1999 im besten Hotel Phnom Penhs abstiegen und gleich einem Staatsbesuch mit Polizeisirenen durch die Stadt eskortiert wurden, wagte kein Zivilist zu protestieren oder zu demonstrieren. Ebenso sitzt "Fleischer" Ta Mok seit März in einem Militärgefängnis mitten in Phnom Penh, ohne daß irgendeiner der überlebenden Zivilisten, die sich normalerweise alle und zu Recht als Opfer dieses Regimes sehen, in der Öffentlichkeit Protest, beispielsweise für ein - sowieso verspätetes - Tribunal, bekundet hätte.
Eine solche Situation ist weder in Europa, auch nicht in den USA und am wenigsten im Nahen Osten vorstellbar und erklärt zumindest die eingangs behauptete "kulturelle Differenz".
Die Gegenwart - so lehrt der buddhistische Mönch Maha Ghosananda - ist Mutter der Zukunft. Das impliziert aber, daß die historische Vergangenheit, die im europäischen Denken einen wesentlichen Faktor zur Urteilsbildung ausmacht, für Buddhisten insgesamt relativ uninteressant ist. Wer ist ein "Buddhist"? Genaugenommen, und im Gegensatz zum Christentum und Islam, nur jemand, der in "Buddhaschaft", also nach der von Gautama Buddha vor 2500 Jahren gelehrten Art und Weise, das heißt mönchisch, praktizierend, lebt und das Nirwana anstrebt.
Der mittlere Weg Etwa 80 Prozent der weltlich-kambodschanischen Bevölkerung befürworten laut Umfragen ein internationales Tribunal, nicht zuletzt deshalb, weil damit die Verantwortung für die möglichen Folgen eines solchen Prozesses einem Dritten, der internationalen Staatengemeinschaft, zugeschoben werden kann. "Wir verurteilen die Tat, aber wir können nicht die Täter hassen" - Maha Ghosananda in seinem Werk "Step by Step" (Parallax Press, P.O.Box 7355, Berkeley, CA 94707) zu dem der weltberühmte Journalist Dith Pran, dessen Autobiographie, die Flucht von den Roten Khmer, in dem mit einem Oscar ausgezeichneten Film "Killing Fields" verfilmt wurde, das Vorwort schrieb.
Im bettelarmen Kambodscha sind derzeit 220 NGO's registriert, allerdings vergleichsweise wenige aus Deutschland und keine aus Österreich. Das Spektrum reicht von amerikanischen Jesus-Sekten, Mormonen, Zeugen Jehovas, Quäkern, australischen Frauen-Netzwerken über UN-World Food Programme, UNICEF, UNESCO, islamischen Getreidelieferungen, Schweizer Straßenkinderbetreuung, Jesuiten bis zu World Vision.
Tatsächlich müßte am dringlichsten der Landbevölkerung geholfen werden, eine dem 20. Jahrhundert angemessene, lebenswürdige Infrastruktur aufzubauen, vor allem die Millionen tödlich explosiver Antipersonen- und Landminen, die noch vergraben sind, zu beseitigen. Der Buddhismus mit seinem Konzept vom "mittleren Weg" würde auch, wenn konsequent politisch angewandt, eine optimale Voraussetzung für eine friedlich und sozial gerecht verteilende Gesellschaft bilden. Aber das fragile Staatsgebilde, eine konstitutionelle Monarchie mit einem betagten König Sihanouk an der Spitze, sieht in bezug auf internationale Hilfslieferungen nach einem Faß ohne Boden aus.
Zurück bleibt ein kulturell verarmtes, ökonomisch unselbständiges und politisch von allen Seiten bevormundetes Königreich Kambodscha, ein vorindustrielles Armenhaus, dessen Bevölkerung jenes berühmte, mild-erhaben und hintergründige Lächeln, wie es in den Gesichtertürmen von Angkor als Weltkulturerbe in Stein festgehalten ist, nach 20 Jahren Bürgerkrieg verloren hat - vielleicht aber in den kommenden Generationen und mittels buddhistisch praktiziertem Vergessen und Verzeihen der historischen Ereignisse, zurückgewinnen wird.