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Ein fundamentaler Exeget

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Die historisch-kritische Bibelmethode hat die theologische Entwicklung des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt das Zweite Vatikanische Konzil, entscheidend mitbestimmt. Dies war lange nicht selbstverständlich, wie Jacob Kremer im letzten Beitrag des nun vorliegenden Sammelbandes seiner wichtigsten Aufsätze der letzten 20 Jahre ausführlich beschreibt. Hat doch gerade die römisch-katholische Kirche vom Mittelalter bis nach dem Zweiten Weltkrieg die Bibel als Glaubensfundament viel zu wenig beachtet.

Andererseits hat die Verkündigung in Predigt und Religionsunterricht die neueren Interpretationsmethoden zum Teil überstrapaziert und deren „dienende Funktion” nicht genügend berücksichtigt, sodaß in letzter Zeit die Schwächen und Grenzen der historisch-kritischen Exegese deutlicher geworden sind.

Der Band, herausgegeben von zwei Mitarbeitern des Aachener Gelehrten, der seit 1972 Ordinarius für neu-testamentliche Bibelwissenschaft in Wien war und dieser Tage emeritierte, ist in vier ungleiche Abschnitte gegliedert. Im ersten finden sich ganz unterschiedliche Artikel zu den Evangelien und der Apostelgeschichte, etwa über die Bildsprache der Kindheitsgeschichten bei Matthäus und Lukas, das Verständnis der Osterhen. Der zweite behandelt Stellen der paulinischen Briefe, im dritten und vierten finden sich Orientierungshilfen zu allgemeinen theologischen Themen wie Christologie, kirchliche Probleme, Bibelverständnis.

Jacob Kremer, furche-Lesern wohlbekannt, versteht die kritische Bibelwissenschaft als Dienst an der Verkündigung. Er ringt um die Wahrheit, bemüht sich in immer neuen Zugängen um die ursprüngliche Deutung der biblischenTexte, andererseits um deren Bedeutung für den Glauben heute. Dabei sind ihm neben den klassischen Methoden der Exegese die Ergebnisse der neueren Sprach- und Textwissenschaften sehr wichtig: daß die gleichen Worte nach ihrem Zusammenhang völlig unterschiedliche Bedeutung haben können; daß erst recht zwischen der Entstehungszeit des Neuen Testaments und der heutigen Lektüre eine tiefe hermeneutische Differenz beachtet werden muß; daß schließlich jeder geschriebene Text eine Eigendynamik annimmt, die der ursprüngliche Verfasser nicht voraussehen konnte.

Jacob Kremer macht es sich selbst, seinen Mitarbeitern und Schülern (der Rezensent ist selbst einer von ihnen) und dem Leser nicht leicht. Es ist für ihn unumgänglich, den ursprünglichen Text ganz genau, sozusagen mit Lupe und Seziermesser, zu untersuchen. Doch die Mühe lohnt sich: der heute wieder moderne Fundamentalismus in- und außerhalb der Kirche wird dadurch schon im Ansatz obsolet. Denn es ist ein erheblicher Unterschied, ob man die Heilige Schrift wörtlich oder beim Wort nimmt - gerade durch das Wörtlichnehmen entsteht die Gefahr, das Wort Gottes für den Menschen von heute aufgrund eines fast zweitausend Jahre alten Textes zu verdecken.

Für den Laien ist der Sammelband eine Fundgrube fundamentaler theologischer Aussagen, der Exeget wird sich dank zahlreicher Anmerkungen, kompletter Bibliographie und solidem Begister (Kühschelm und Sto-wasser sei Dank!) präzise orientieren können. Möge die Lektüre dieses Buches „den Blick schärfen” für die Lebendigkeit des Wortes Gottes in der heutigen christlichen Gemeinschaft.

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