Wohnen Haus - © Foto: Pixabay

Ohne Obdach: Ein neues Leben zurechtschneidern

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In der Adventszeit läuft die Werkstätte im Wiener Caritas-Haus Juca auf Hochtouren. Dort finden junge obdachlose Frauen und Männer nicht bloß einen Ort zum Wohnen und Arbeiten, sie finden idealerweise auch sich selbst. Ein vorweihnachtlicher Besuch der FURCHE.

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In der Adventszeit läuft die Werkstätte im Wiener Caritas-Haus Juca auf Hochtouren. Dort finden junge obdachlose Frauen und Männer nicht bloß einen Ort zum Wohnen und Arbeiten, sie finden idealerweise auch sich selbst. Ein vorweihnachtlicher Besuch der FURCHE.

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"Ich will einen Job, ich will eine eigene Wohnung und ich will mein Kind zurück", erklärt Sandra (Name geändert) mit fester Stimme. Die junge Frau mit den dunkelblonden Haaren lebt seit vier Monaten im Juca, dem Wohnhaus der Caritas für junge Erwachsene, im 16. Wiener Bezirk. Sie kommt gerade aus dem hauseigenen Caritas-Shop, wo sie arbeitet, und schaut kurz in der Werkstätte nebenan bei ihren Kollegen vorbei. An einem großen Holztisch sitzen mehrere junge Männer, die aus Filz Weihnachtsdekoration, Patschen oder Handytaschen fertigen. Sandra scherzt mit ihnen. Sie fühlt sich sichtlich wohl im Juca. Und vor allem sicher. Endlich. Die 23-Jährige musste vor ihrem Freund aus der gemeinsamen Wohnung flüchten. "Das war mir zuviel Agression und Brutalität, diese Geschichten halt." Kürzlich ist der Ex-Freund vor der Tür gestanden. Die Mitarbeiter haben ihn nicht hereingelassen. "Das finde ich schön", sagt sie und lächelt. Anfangs war Sandra sehr zurückhaltend, inzwischen hat sie gute Freunde gefunden. "Mich und Jenny gibt es nur im Doppelpack", erzählt sie strahlend, "das weiß das ganze Haus."

Wer im Juca einzieht, verfügt über kein soziales Netz. Niemand würde hier freiwillig einziehen, wenn er Eltern hätte, die bei Problemen aushelfen. Viele Heimbewohner kommen aus der Mag Elf, dem Wiener Amt für Jugend und Familie. Sie haben eine klassische Heimkinder-Biografie hinter sich. "Zu uns kommen jene, bei denen man die Probleme bis zum Erwachsenenalter nicht lösen konnte", erklärt die Leiterin des Juca, Hannah Swoboda. Keine abgeschlossene Berufsausbildung, ein früher Schulabbruch, Alkohol- und Suchtmittel-Missbrauch sowie psychische Erkrankungen sind die gängigsten Probleme. "Da dreht sich die Spirale schnell nach unten", weiß Swoboda.

Spirale dreht sich schnell nach unten

Sandra hat bereits mit 18 Jahren ihre Tochter bekommen. Sie musste ihre Lehrlingsausbildung als Bürokauffrau aussetzen und hat danach nicht mehr den beruflichen Wiedereinstieg geschafft. "Das Verkaufen im Shop hier ist ein schöner Zeitvertreib - aber nichts auf Dauer", weiß sie. Inzwischen hat Sandra Kurse in Englisch und Personalverrechnung belegt. Obendrein versucht sie gerade, bei Gericht ein Sorgerecht für ihr Kind zu erwirken. Zum Kindesvater hat sie keinen Kontakt mehr: "Der war gleich am Anfang weg." Die mittlerweile vierjährige Tochter lebt bei Sandras Vater in Niederösterreich, der den Kontakt zu ihr abgebrochen hat. "Er lässt sie mich nicht sehen", sagt sie traurig. Sandra hofft auf die Unterstützung der zuständigen Sachbearbeiterin vom Jugendamt. Sie kennt die Frau gut, sie wurde selbst als Kind von ihr betreut.

"Wer vom Elternhaus keinen Halt bekommen hat, kann nur schwer herausfinden, welche Fähigkeiten er hat und was er eigentlich will - vor allem, wenn er in der Schule schon früh negative Erfahrungen gemacht hat", betont Swoboda. Viele hätten den Eindruck: "Dies kann ich nicht, das kann ich nicht - eigentlich kann ich eh nix." Die Bewohner verfügen durch die Bank über niedrige Bildungsabschlüsse. "Maximal einmal jährlich haben wir jemanden hier, der die siebente Klasse abgebrochen hat", erzählt Swoboda. Die große Herausforderung bestehe darin, herauszufinden, welche Arbeit langfristig die passende ist.

Schulabbrecher, die jahrelang nichts gemacht haben, finden kaum mehr einen Job. Zuerst muss der Hauptschulabschluss nachgeholt oder eine Lehrausbildung wieder aufgenommen werden. Für jene, die weder in Ausbildung sind noch in AMS-Schulungen, gibt es die hausinterne Werkstatt und Küche. Dort sollen sich die Jugendlichen an einen strukturierten Tagesablauf gewöhnen. Verpflichtend ist diese Arbeit nicht: "Wir wollen, dass sie Arbeit endlich als etwas Sinnstiftendes wahrnehmen", erklärt Swoboda. Vor allem sollen sie soziale Fähigkeiten erlernen. Etwa das Eingehen von Verträgen. "Wenn sie drei Jahre nur in den Tag hinein gelebt haben, müssen sie erst wieder lernen, Verbindlichkeiten einzugehen."

Christopher hat am Holztisch vor sich Filzteile und Schablonen ausgebreitet. Er bastelt gerade Weihnachtsgeschenke für die Mitarbeiter des Hauses. Der 26-Jährige hatte von Kindestagen an den Traumberuf Kellner vor Augen. Er fand aber keine passende Lehrstelle und absolvierte schließlich eine Lehre in einem Wiener Möbelhaus. Wohl fühlte er sich dort nicht. "Von einer fiesen Kollegin habe ich Albträume bekommen und schließlich den Job hingeschmissen", erzählt er. Danach arbeitete er als Security.

"Als mich dann meine Freundin verlassen hat, war mir die Arbeit egal und ich konnte keine Miete mehr zahlen." Auch ein Job-Angebot in Deutschland stellte sich als Pleite heraus. Mit seinem letzten Geld kaufte er sich ein Ticket zurück nach Österreich. "Am Westbahnhof habe ich mir dann im Internet eine Liste der Notquartiere herausgesucht." Kurz darauf kam er ins Juca, wo er seit fast zwei Jahren lebt. Christopher erhält Notstandshilfe und Wohnbeihilfe. Im Haus verdient er sich durch Hof- und Stiegenreinigungen ein paar Euro dazu.

Der Umgang mit Geld ist ein großes Thema für die jungen Leute. Sie erhalten für die Arbeit in der Werkstatt ein "sozialtherapeutisches Taschengeld". Von ihrem jeweiligen Sozialhilfe-Budget müssen sie rund 280 Euro Miete für ihr WG-Zimmer bezahlen. "Sie sollen lernen, Verantwortung für ihre Finanzen zu übernehmen. Früher hat man die Leute im Heim voll versorgt und sich gewundert, dass sie in der großen Welt draußen nicht zurechtkommen", kritisiert Swoboda.

Überfordernde Auswahl an Möglichkeiten

Den unterprivilegierten Jugendlichen setzt auch das Spektrum an schier unendlichen Konsummöglichkeiten zu. "Wenn sie sehen, was sich Gott und die Welt alles leisten können, möchten sie das natürlich auch gerne haben. Wer aber nicht die finanziellen Mittel hat, macht auch dumme Sachen", berichtet Swoboda. Viele haben schon als Minderjährige einen Schuldenberg angehäuft. Oft beginnt die Misere mit einem scheinbar harmlosen Handyvertrag. Wenn die Leute volljährig sind und sich plötzlich das Inkasso-Büro meldet, kommt das böse Erwachen. "Für jemanden ohne Einkommen sind Schulden in der Höhe von 2000 oder 3000 Euro schon sehr schwer zu begleichen", weiß Swoboda.

Die Jugendlichen sind im Haus Selbstversorger. Jeder hat sein eigenes Zimmer, für das er verantwortlich ist. Das große Ziel eines Aufenthalts im Juca ist es, danach eigenständig leben zu können. "Hier ist rund um die Uhr wer da, falls jemand eine Krise hat. Sie sollen aber lernen, selbst zurechtzukommen, sich ein soziales Netz aufzubauen", erklärt Swoboda. Sobald sie alleine wohnen, können sie nachts nur mehr Rat auf Draht anrufen. Bei Leuten mit Borderline-Syndrom sind auch Fremd- und Selbstgefährdung ein Thema. Bei den Burschen drängt die Aggression mehr nach außen, bei den Mädchen dominieren selbstzerstörerische Verhaltensweisen, Bulimie und Anorexie.

Zusammenleben üben in der Pärchen-WG

Um Geschlechterklischees in Frage zu stellen, ist es der Hausleiterin wichtig, männliche und weibliche Mitarbeiter zu beschäftigen, die nicht den althergebrachten Bildern entsprechen. Homosexualität etwa ist ein heikles Thema für die Jugendlichen. Ihre Schranken im Kopf können sie nur im direkten Erleben überwinden. "Die Mädchen sollen das Selbstbewusstsein entwickeln, dass sie mehr sind als das Objekt des Mannes", sagt Swoboda, "und die Burschen sollen realisieren, dass es noch mehr Rollenbilder gibt als das des Machos."

Auch Liebesbeziehungen sind ein großes Thema. Es gibt eine eigene Pärchen-WG. Christopher wohnt dort. Kürzlich hat er seine On-Off-Freundin aus Deutschland geholt. "Ich helfe ihr bei den Amtswegen, damit sie hier im Haus wohnen kann", erzählt er. Christopher will sobald wie möglich wieder einen Job als Security finden, mit seiner Freundin zusammenziehen und eine Familie gründen. Viele Paare, die sich im Juca finden, wollen nach ihrem Auszug gemeinsam wohnen. "Da ist es gescheiter, sie üben das mal bei uns," weiß Swoboda. Es gilt auch zu lernen, gemeinsam mit dem Geld umzugehen und einen Haushalt zu führen.

Zu Weihnachten kochen die Mitarbeiter und Bewohner gemeinsam groß auf, schmücken das Haus, singen deutsch- und englischsprachige Lieder und lesen aus dem Evangelium. "Wir suchen jene Stellen aus, mit denen auch Angehörige anderer Konfessionen etwas anfangen können", betont Swoboda. Die Bewohner erhalten Geschenke aus der Christkindlaktion der Caritas, zusätzlich gibt es für alle ein persönliches Geschenk von den Mitarbeitern und ein Naschkisterl. "Gerade die Leute aus anderen Kulturkreisen sind immer fasziniert, was wir da für eine Riesenshow abziehen", schmunzelt Swoboda.

Es wird aber auch immer eine Gedenkminute abgehalten, in der eine Kerze für jene angezündet wird, die heuer verstorben sind. Immer wieder kommt es im Umfeld der Bewohner zu Todesfällen. Wie Christopher den Heiligen Abend heuer verbringen wird, weiß er noch nicht. "Mein Bruder ist im Jänner gestorben", erzählt er. Vielleicht wird er zu Weihnachten bei seiner Schwester sein, mit der er seither wieder Kontakt hält. "Oder ich verkrieche mich oben in meinem Zimmer. Oder ich feier' doch unten gemeinsam mit den anderen."

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