Ein Skandal und seine 34-jährige Geschichte

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Über jene Wiener Abtreibungsärztin, deren Praxis jüngst geschlossen wurde, hat die FURCHE bereits 1979 berichtet. Chronologie eines systematischen Versagens.

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Über jene Wiener Abtreibungsärztin, deren Praxis jüngst geschlossen wurde, hat die FURCHE bereits 1979 berichtet. Chronologie eines systematischen Versagens.

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Es war am Abend des 11. Juni 2013, als eine Frau mit lebensbedrohlichen Verletzungen in ein Wiener Spital eingeliefert wurde. Ihre Gebärmutter war durchstoßen, eine Arterie sowie der Harnleiter verletzt, der gesamte Bauchraum voll Blut. Zu Mittag hatte sich die Frau, die sich kaum auf Deutsch verständigen konnte, in der Praxis der Wiener Allgemeinmedizinerin R. einem Schwangerschaftsabbruch unterzogen. R. selbst hatte dabei die Narkose vorgenommen, ein anderer Gynäkologe die Abtreibung. Wenige Stunden später wurde die Patientin wegen "Panikattacken" von R. ins Krankenhaus gebracht - und sofort notoperiert.

"Morbus R." nannte man in Ärztekreisen seit Jahren jene Komplikationen, die sich bei R.s Patientinnen häuften. Während in privaten Ambulatorien wie "Gynmed" oder "pro:woman" bei Abbrüchen mittlerweile die Absaugmethode vorgenommen wird (und dafür bis zu 630 Euro verrechnet werden), haben R. und ihre Kollegen noch die Kürettage, also das Auskratzen der Gebärmutter, praktiziert - um vergleichsweise billige 300 Euro. Seit 2009 wusste die Wiener Patientenanwaltschaft von den Problemen in dieser Ordination. Auch die Wiener Ärztekammer war teilweise informiert - doch nichts geschah (vgl. Artikel unten).

Jahrzehntelang "Gefahr im Verzug"

Erst am 11. Juli, als sich Patientenanwältin Sigrid Pilz an die Öffentlichkeit wandte und von 16 schwer verletzten Frauen in den letzten vier Jahren berichtete, kam Bewegung in den Fall. Tags darauf verhängte die Magistratsabteilung 40 ein temporäres Berufsverbot gegen die aus Rumänien stammende Medizinerin - wegen "Gefahr im Verzug", wie es hieß. (Die Ärztin bestreitet die Anschuldigungen. Für sie gilt die Unschuldsvermutung.)

Wie unfassbar lang indes die Geschichte des "Morbus R." tatsächlich ist, offenbart ein Blick ins FURCHE-Archiv. Bereits am 26. September 1979 deckte der damalige Politik- und spätere FURCHE-Chefredakteur Hannes Schopf bedenkliche Praktiken der Wiener Ärztin auf (vgl. Faksimile oben). Im Zentrum standen damals vor allem ihre Vermarktungsmethoden. Weil sich der Verdacht erhärtete, dass R. an Kollegen im Ausland Werbebriefe geschickt hatte, in denen sie sich als Abtreibungsärztin empfahl und Provisionszahlungen für Vermittlungsdienste in Aussicht stellte, geriet sie in den Fokus der Ärztekammer. Am 19. Mai 1979 wurde über sie "die Disziplinarstrafe der Untersagung der Berufsausübung für die Dauer von drei Monaten unter Festsetzung einer Bewährungsfrist von drei Jahren verhängt". Kurz darauf wollte R., in deren Praxis bis zu 30 Abtreibungen täglich vorgenommen worden sein sollen, eine eigene Klinik in Wien-Fünfhaus errichten. Doch die Wiener Landesregierung beschied ihr Ansuchen negativ.

Drei Monate später befasste sich sogar der deutsche Stern mit dem Fall R. Eine Redakteurin, die sich als ungewollt schwangere Patientin ausgegeben hatte, berichtete von "hygienisch katastrophalen Bedingungen". Ähnlich vernichtend das Urteil eines Frauenarztes, der die Undercover-Journalistin an R. verwiesen hatte, dies aber später offiziell bestritt. "Mit Infektionen kommen die Frauen aus Wien zurück", erklärte er. Kurz darauf wurde die Praxis von der Wiener Gesundheitsbehörde "vorübergehend geschlossen", wie die FURCHE am 18. Juni 1980 berichtete (s. kleines Faksimile li.). Nach einem weiteren Stern-Artikel, der von schweren Verletzungen und drohender Unfruchtbarkeit bei einer knapp 16-Jährigen nach einer Abtreibung bei R. erzählte - das Krankenhaus, in das sie später eingeliefert wurde, sprach von "Schweinerei" und "Pfusch" -, erteilte Gesundheitsminister Herbert Salcher (SPÖ) schließlich Weisung, ein Disziplinarverfahren einzuleiten. "Mit der vorübergehenden Sperre ihrer Ordination [...] war das Geschäft nur kurzfristig gestört", schrieb Hannes Schopf am 2. Juli 1980 in der FUR-CHE (vgl. kleines Faksimile re.). "Jetzt könnte es bald zerstört sein."

Ende Juli 2013 gibt es zwar neben dem temporären Berufsverbot auch ein Verwaltungsstrafverfahren gegen die Ärztin - doch ihre Homepage ist nach wie vor online: "Mein Ziel ist es, dass Sie sich bei mir wohl fühlen - sowohl in fachlicher als auch in menschlicher Hinsicht", heißt es dort.

Intransparentes System

Der Fall R. offenbart nicht nur das jahrzehntelange Systemversagen bei der ärztlichen Qualitätskontrolle. Er belegt auch die vollkommene Intransparenz in der hiesigen Abtreibungs-Praxis. Bis heute gibt es etwa in Österreich keine validen Daten zur Zahl der Abbrüche. In Deutschland wurden im Vorjahr 106.816 Abtreibungen gemeldet, was 7,2 Eingriffen pro tausend Frauen im fruchtbaren Alter entspricht. Die Rate hierzulande wird deutlich höher geschätzt: Bis zu 30.000 Frauen sollen es sein - darunter immer mehr Mädchen, viele aus Migrantenfamilien.

Einhellig gefordert wird deshalb eine umfassendere Sexualerziehung sowie mehr Informationen über Verhütung. Während manche auch für Abtreibung auf Krankenschein plädieren, mahnt "Aktion Leben Österreich" jene "flankierenden Maßnahmen" ein, die schon 1974 vor Inkrafttreten der Fristenregelung versprochen wurden: Dazu gehört neben einer Statistik auch die Erforschung jener Gründe, warum Frauen sich zu diesem drastischen Schritt entscheiden. Auch mehr Werbung für Schwangerenberatung sowie Unterstützungsangebote für Schwangere in Not werden gefordert. Die unendliche Geschichte des "Morbus R." wäre ein guter Anlass, diese Schritte endlich zu setzen.

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