Ein Staat gegen die GRASWURZEL

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Das Nein-Lager gegen das Befugnisreferendum Recep Tayyip Erdogans hat an Kraft gewonnen - vor allem aber schenkt es wieder Hoffnung.

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Das Nein-Lager gegen das Befugnisreferendum Recep Tayyip Erdogans hat an Kraft gewonnen - vor allem aber schenkt es wieder Hoffnung.

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Allahu Ekber, Allahu Ekber, Türkler geliyor - "Allah ist groß, die Türken kommen" schallt es in einem Lied vom AKP-Wahlkampfzelt in Besiktas Istanbul, einer Gegend bekannt für seine Bars direkt am Bosporus und der liberalen Einstellung seiner Bewohner. Umso energischer schwingen die AKP-Anhänger hier im gegnerischen Territorium ihre Türkei-Fahnen, ein junger Mann zeigt stolz den Wolfsgruß der rechtsextremen nationalistischen MHP und klopft sich dabei auf die Brust. Nachdem das Lied erstummt, ruft einer der Anhänger laut vom Lied euphorisiert: Almanya bekle, Türkler geliyor! - "Deutschland warte, die Türken kommen!"

Am 16. April findet das Referendum zur Verfassungsänderung statt, das den Wechsel vom parlamentarischen zum präsidentiellen System und damit Erdogan mehr Macht bringen soll. Überall herrscht daher in Istanbul Wahlkampf, riesige Erdogan-Plakate werben für Evet, also ein Ja zur Verfassungsänderung beim Referendum. Eine türkische Spezialität aber sind die Autos, die mit Lautsprechern ausgerüstet, den Wahlkampf mit eigens dafür komponierten Liedern in Ohrwurmqualität in die engen Gassen Istanbuls tragen. "Ja, wir sagen Ja, zu einem starken Führer, einem starken Staat", heißt es etwa in einem AKP-Lied, das in ganz Istanbul nicht zu überhören ist. An allen zentralen Plätzen der Stadt, meistens vor den Fährstationen am Bosporus, beziehen die politischen Parteien verschiedener Couleur Stellung, darunter auch die sozialdemokratische CHP und die kurdische HDP, die für Hayır, also einem Nein zur geplanten Verfassungsänderung werben.

Werben für ein Nein

So auch in Besiktas auf der europäischen Seite der Millionen-Metropole - direkt neben dem AKP-Zelt hat sich die CHP positioniert. Hier verteilen auch die Studenten Erdal und Zeynep Flyer und werben für ein Nein beim Referendum. Angespannt sehen sie herüber zum AKP-Zelt und können es nicht erwarten, bis das Allahu-Ekber-Lied vorbei ist und die CHP ihr Wahlkampflied anstimmt, in dem Atatürk mit den Worten "Es lebe Mustafa Kemal Pasha!" gepriesen wird. "Ich bin auch Muslim, aber ein moderner und laizistischer. Die AKP nutzt die Religion nur aus, für ihre politische Zwecke.", meint Erdal und Zeynep, die Kopftuch trägt, pflichtet ihm bei.

Ein älterer Herr vom AKP-Zelt mit dem traditionellen Rosenkranz in der Hand hört mit und mischt sich in die Diskussion: "Jahrzehnte wurden unsere Glaubensrechte unterdrückt, mit Kopftuch durften unsere Töchter nicht mal studieren! Unser Glaube ist uns das Wichtigste, daher stimme ich mit Ja, damit wir einen starken Präsidenten und Staat haben, der uns beschützt. Denn mit der Opposition, die wir haben, kann man nicht arbeiten, die sagt zu allem Nein." Der Computer-Ingenieur und AKP-Aktivist Rahmetullah, der im Rechtsberatungszelt der AKP im konservativen Üsküdar auf der asiatischen Seite für ein Ja beim Referendum wirbt und dabei traditionellen Cay anbietet, drückt sich diplomatischer aus: "Ich selbst war eine Woche vorher noch gegen die Verfassungsänderung, entgegen meiner Parteilinie, weil ich Angst hatte, dass der Präsident zu viele Komptenzen erhalten könnte und das Parlament seine Funktion verliert. Aber dem ist nicht so. Es wird ja weiterhin Parlamentswahlen geben, und Gesetze kann der Präsident nicht im Alleingang entscheiden, dazu braucht er die Unterstützung des Parlaments."

Wenn der Staat zu weit geht

Auf die weitgehende Repression der Medien und Universitäten angesprochen, meint er, dass der Staat manchmal zu weit gehe und sicher einiges an Unrecht geschehe, aber nach dem versuchten Militärputsch am 15. Juli nunmal ein Ausnahmezustand herrsche. Er wünscht sich mehr Verständnis dafür in Europa und möchte auch an den EU-Beitrittsverhandlungen festhalten. Von der Verfassungsänderung erwartet er sich mehr Frieden und Stabilität, weil der Präsident von der Oppositon nicht mehr so leicht am Regieren gehindert werden könne.

Von diesen Argumenten hält Izer, Pensionist und Vollzeitaktivist der Plattform Haziran (April), die aus den Gezi Park-Protesten hervorgegangen ist und parteiunabhängig für ein Nein beim Referendum wirbt, nichts: "Das Parlament soll weiterhin bestehen bleiben, ja aber nur als Abnicker der Gesetzesvorschläge, die Erdogan einbringt. Da die Parlamentswahlen gemeinsam mit den Präsidentschaftswahlen abgehalten werden, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass die AKP wieder die Mehrheit im Parlament einfährt und dann machen kann, was sie will. Außerdem kann Erdogan mit Dekreten am Parlament vorbeiregieren."

Anfang der 1970er verbrachte Izer für seine kommunistischen Ansichten vier Jahre im Gefängnis, acht Monate davon unter Folter. Dafür, dass er seine Meinung offen bekunden kann, ohne Gefangenschaft zu fürchten, geht er täglich auf die Straße und wirbt für ein Nein beim Referendum.

Das größte Problem sieht er in der Autoritätshörigkeit der türkischen Gesellschaft: "Von klein auf wird uns beigebracht hörig zu sein. Einer sagt was, Tausend folgen, das ist für uns normal, das ist in unserer Kultur." Dennoch ist er optimistisch, was das Ergebnis des Referendums anbelangt und hofft auf ein Nein zur Verfassungsänderung.

Auch Selin, die ihr Doktorat an der Sorbonne in Paris abgeschlossen hat und an der Galatasaray-Universität in Istanbul lehrt, verteilt Nein-Flyer in Üsküdar und zeigt sich zuversichtlich, dass schlussenlich doch die Mehrheit mit Nein abstimmen wird, wie auch die letzten Umfragewerte zeigen. "Vor zwei, drei Monaten noch war die Depression im Nein-Lager der Opposition zu spüren, das Gefühl, sowieso nichts ändern zu können angesichts der starken Repressionen. Jetzt aber bewegt sich die Zivilgesellschaft wieder, überall in der Türkei wird für Hayır (Nein) geworben und das von verschiedensten Organisationen. Diesen Graswurzelbewegungen, die von allen Gesellschaftsschichten getragen werden, kann der Staat nicht so leicht etwas entgegensetzen."

Plakate verboten und zerrissen

Obwohl die Hayır-Kampagne an Stärke und auch Sichtbarkeit in den vergangenen Wochen sehr gewonnen hat, stehen Repressionsversuche an der Tagesordnung. Im liberalen Stadtviertel Kadiköy wurde der kurdischen HDP verboten, ihre Wahlkampflieder zu bespielen. Aus Diyarbakir, dem kurdisch dominierten Osten des Landes wurde sogar berichtet, dass alle Nein-Wahlkampfveranstaltungen verboten und die Plakate der HDP zerrissen wurden. Auch andere Parteien, wie die CHP, berichten von Behinderungen in ihrer politischen Arbeit, plötzliche Stromausfälle, Zerstechen von Reifen ihrer wahlwerbenden Autos und Einschüchterungen. Dennoch hat der Wahlkampf der letzten Monate laut Selin eines deutlich gezeigt: "Die Türkei ist nicht nur Erdogan. Und das muss auch in Europa wahrgenommen werden."

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