Ein Stabilitätsnarr der Liebe

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In den 1.700 Briefen Goethes an Frau von Stein sind die privaten Gefühlsäußerungen untrennbar mit dem literarischen Wollen verbunden.

Wenige Frauen können sich wohl mit Charlotte von Stein vergleichen, was die Zahl der erhaltenen Liebesbriefe angeht: Weit über 1.700 hat Goethe an die wichtigste Frau in seinem Leben geschrieben. Was die Nachwelt am meisten an dieser außerordentlichen Beziehung interessierte, war die Frage: Haben sie - oder haben sie nicht? Goethe war sieben Jahre jünger als die Göttin seines Herzens. Als sie den 26-Jährigen kennenlernte, hatte sie bereits sieben Kinder geboren, sie war Hofdame in Weimar, ihr Gatte Oberstallmeister. Die Liebe dauerte zwölf Jahre, dann floh Goethe aus Weimar und verschwand für zwei Jahre in Italien.

Von dort schrieb er ihr zwar noch immer, aber bei seiner Rückkehr empfing sie ihn eisig. Goethe begann bald darauf eine Amour mit einem einfachen Blumenmädchen, das ihm auch Kinder gebar. Er heiratete Christiane Vulpius jedoch erst viele Jahre später, sozusagen als Dank dafür, dass sie Napoleons Truppen couragiert entgegentrat und eine Einquartierung in seinem Haus am Frauenplan verhinderte.

Das Einmalige an Goethes Liebe zu Frau von Stein hat jetzt ein Germanist ganz ungermanistisch in einem berührend geschriebenen Buch ausgebreitet. Helmut Koopmann, Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Augsburg, geht an das Thema über die Sprache heran: Goethe, schon als junger Mann berühmt durch seinen schwärmerischen Roman "Die Leiden des jungen Werthers", fand in seinen Briefen an Charlotte von Stein eine neue Liebessprache, einfach, direkt, unmittelbar, hinreißend in ihrer Variationsfülle.

Schon die Annäherung der beiden verlief spannend. Der Augenmensch Goethe erhielt von seinem Freund Lavater Schattenrisse verschiedener ihm unbekannter Menschen. In seinem Kommentar zu jenem der Frau von Stein entdeckte er "Festigkeit", "liebevolle Gefälligkeit", "Naivität und Güte", "Wohlwollen", "Treu bleibend". Sie wiederum war begierig darauf, den Verfasser des "Werther" kennzulernen.

Goethe kam nach Weimar keineswegs in der Absicht, dort für den Rest seines Lebens zu bleiben. Er folgte lediglich einer Einladung des 18-jährigen Herzogs Carl August, nicht zuletzt, weil er eine Zeitlang seinem Vater in Frankfurt und einer unglücklichen Verlobungsaffäre (mit Lili Schönemann) entfliehen wollte. "Was der Vater noch für einen lustigen Hofstreich' hielt, um den Bürgerlichen zu kränken und zu beschämen', wird für Goethe zum Eintritt in eine adelige Welt." Schon nach zwei Monaten ist keine Rede mehr von vorübergehendem Besuch.

Das Schicksalsdatum der ersten Begegnung kam am 11. November 1775. Bald floss der Strom der Zettelchen, Billette, Briefe mehrmals täglich, auch wenn sich die beiden jeden Tag sahen.

Goethe hatte, ehe er Charlotte traf, eine "Beziehung" mit einer Frau, die er nie traf. Vergleicht man die Briefe, die er mit Auguste Gräfin zu Stolberg wechselte, mit denen an Frau von Stein, tut sich eine Welt der Unterschiede auf. Inhalt und Ziel der früheren Briefe war einzig er selbst. Jetzt, bei Frau von Stein, fühlte er sich ausgeliefert, wie er einer Frau nie zuvor ausgeliefert gewesen war. "Und so bat er sie um Zuneigung und war zugleich furchtsam, ängstigte sich darüber, dass sie ihm vielleicht verweigert werden könnte. Eben das gibt den Briefen ihren scheinbar monologischen Charakter: Es ist da keine Distanz mehr zu der geliebten Frau, sondern nur der Wunsch, ihr nahe zu sein, von ihr geliebt zu werden. Er äußert ihn tausendfach." Wie Frau von Stein ihrerseits reagierte, wissen wir nur indirekt aus seinen Aussagen zu ihren Briefen, denn sie forderte später die ihren zurück und verbrannte sie - allerdings erst als hochbetagte Dame. Vom Wert seiner schriftlichen Liebeszeugnisse war sie überzeugt, sie bewahrte sie vollständig auf.

Helmut Koopmann nimmt den Leser auf eine einzigartige "Liebesreise" mit: Ihre Stationen waren Innigkeit, Zweifel, Entfremdungen, neuerliches Entflammen. Den Höhepunkt der Beziehung ortet er 1782. Da schreibt der 33-Jährige an die 40-Jährige: "Meine liebste, meine einzigste wie danck ich dir für alles was du mir thust ... Jeder Zweifel von dir erregt ein Erdbeben in den innersten Festen der Tiefe meines Herzens ... Meiner L.L. schicke ich ein neues Brod, mögten wir es doch recht lange zusammen geniessen." Wir wissen nicht, was sie für ihn getan hat und welcher Zweifel ihn so aufwühlt. Aber das Brot, Symbol des Lebens, will er nur mit ihr teilen.

Was der Autor fast völlig ausblendet, ist Goethes übriges Leben. Der Bürgerliche aus Frankfurt, der es am kleinen Fürstenhof in Weimar immerhin zum Minister brachte, hart arbeitete, unter der Last der Verpflichtungen gegenüber Freunden klagte, hat der geliebten Frau stets nur seine Liebe bekundet, sie kaum je mit philosophischen Themen oder sonstigen Gedanken behelligt. Er wechselt vom Sie zum Du. Er schlägt einen Ton an, als wären die beiden in einer "unio mystica" vereint, "verheurathet". Er macht ihr einen indirekten Heiratsantrag. Wenn er mit dem Herzog verreisen muss, nimmt er als Liebespfand Charlottes Sohn Fritz mit.

Den Ehemann erwähnt er kaum, er scheint ihn nicht sonderlich gestört zu haben. Der literarische Niederschlag erfolgt in seinen Gedichten und im Drama "Tasso". Doch sind seine Briefe nicht auch ein Kunstwerk? Ein Versuch, "die eigene Sensibilität einer geliebten Frau gegenüber darzustellen, sie in das zu bringen, was für Goethe Lebenselexier war: in Worte und Sprache. Er schreibt, paradox formuliert, um ihr schreiben zu können."

Und doch floh er schließlich. Vor ihr? Er schrieb in Italien ein Tagebuch "für sie". Aus dem Dialog war ein Monolog geworden, die Literatur hatte über das Leben gesiegt. Von Italien aus bat er sie, das an sie gerichtete Tagebuch für eine Veröffentlichung einzurichten. Dieses Ansinnen kam für Frau von Stein einem Liebesverrat gleich. Sie erstarrte auf Jahre und verbarg ihren Hass auf ihre "Nachfolgerin" nicht. Die Frage, ob die beiden eine erotische Liebeserfüllung gefunden haben, lässt Koopmann offen. In einem Gespräch sagte er mir, er neige zu der Ansicht, dass Goethe und die Frau von Stein mehr als nur Seelenfreundschaft verbunden habe. Goethe erwies sich in dieser Beziehung geradezu als Stabilitätsnarr der Liebe. Alt geworden, übten sie Nachsicht miteinander, nahmen Anteil an den Krankheiten des anderen, an Familienfragen. Charlotte von Stein starb 1827, 85-jährig. Goethe überlebte sie um fünf Jahre.

GOETHE UND FRAU VON STEIN

Geschichte einer Liebe

Von Helmut Koopmann

C. H. Beck Verlag, München 2002

282 Seiten, Bilder, Ln., e 20,50

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