Ein Volk von Hirtinnen und Hirten

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Die Hirtenaufgabe in der Kirche darf nicht nur dem Klerus überlassen werden, meint der Pastoraltheologe Hermann Stenger.

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Die Hirtenaufgabe in der Kirche darf nicht nur dem Klerus überlassen werden, meint der Pastoraltheologe Hermann Stenger.

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Bin ich der Hüter meines Bruders?" - Mit dieser Frage versucht Kain, sich vor Gott zu rechtfertigen. Die Antwort im Sinn des biblischen Glaubens ist klar: Nach dem Willen Gottes sind wir die Hüter und damit die Hirten unserer Brüder und Schwestern.

Das ist die zentrale Aussage im neuen Werk des emeritierten Innsbrucker Pastoraltheologen Hermann M. Stenger CSsR, das er selbst als ein Vermächtnis bezeichnet: "Im Zeichen des Hirten und des Lammes". Zu Beginn dieses Buches legt der im deutschen Sprachraum bekannte geistliche Begleiter von Einzelnen, Gruppen, Gemeinden und kirchlichen Institutionen in der Form einer Legende seine pastorale Vision vor: dass eine Herde von Schafen beginnt, ein "neues Leben als ein Volk von Hirtinnen und Hirten zu führen". Er spricht von einer "hirtlichen Basiskompetenz" und meint damit "eine allgegenwärtige spirituelle und ethische Handlungsqualität, die nicht nur therapeutisch-heilend wirkt, sondern immer auch salutogenetisch, Heil und Leben fördernd".

Der Innsbrucker Bibelwissenschaftler Robert Oberforcher verfasste einen grundlegenden Beitrag über die Hirtensymbolik in den Religionen des Alten Orients, im Alten und im Neuen Testament. Hier zeigt sich: "Theologisch-religiös gesprochen geht es bei der in der Bibel dargestellten Herdenexistenz um die Grundüberzeugung, dass die Menschen nicht aus sich selbst, in Totalautonomie, ihr Dasein realisieren und ihr Lebensziel treffen können. Vielmehr sichert allein die Theonomie, das heißt die Orientierung des Daseins auf Gott hin, und die innere Bereitschaft, sich von ihm führen zu lassen, den Zugang zu einem reichen und unzerstörbaren Leben." Daher gilt: "Hirte im eigentlichen Sinn der Metapher ist nur Gott und der von ihm bestellte ,Hirte aller Seelen' Jesus." Die Jüngerinnen und Jünger partizipieren am Hirtenamt Jesu.

Im Anschluss daran untersucht Hermann Stenger, wie im Lauf der Geschichte die Teilhabe aller Gläubigen an der Hirtenaufgabe Jesu in der Kirche dem Klerus vorbehalten und zur Rechtfertigung einer Herrschaft desselben über die Laien missbraucht wurde. Der Philosoph Michel Foucault kritisiert die kirchliche "Pastoralmacht", die sich "im Rahmen der innerkirchlichen Beziehung von Macht und Gehorsam, von Amt und Volk" abspielt. Stenger beantwortet die Kritik Foucaults, indem er "alle Christinnen und Christen zur Teilnahme am Hirtenamt Jesu einlädt und für die Gemeinde als Subjekt und Trägerin der evangelisierenden Seelsorge plädiert".

Kompetenz der Hirten Die dafür nötige hirtliche Kompetenz erfordert die Fähigkeit zur "Hingabe ohne Preisgabe" und zur "Abgrenzung ohne Selbstsucht", also die richtige Balance zwischen der Liebe zum Nächsten und jener zu sich selbst. Dieses Gleichgewicht "im Bewusstwerden der fundamentalen kreatürlichen Ebenbürtigkeit" kann weder vom Ich noch vom Du hergestellt werden, sondern setzt die Beziehung zu einem gemeinsamen übergreifenden Grund voraus, den die Gläubigen in Gott sehen. Also sind gerade die Christen berufen, einander und anderen Hirte zu sein. Entsprechend dem biblischen "Liebet einander" (Joh 13,34f und 15,12.17) gilt für sie: "Die ,vertikale' Liebe zum Dreifaltigen Gott ist zugleich die ,horizontale' Kraft unter den Seinen."

Beim hirtlichen Tun kommen "Künste" ins Spiel, die nicht als Techniken angeeignet werden können, sondern vom ganzen Menschen, vor allem mit dem Herzen, eingeübt werden müssen: für Leben sorgen, Beziehungen gestalten, Macht auf rechte Weise ausüben. Diese dreifache Kunst lässt sich zusammenfassen mit dem biblischen Begriff des Dienens oder kann auch als "Therapie" im ursprünglichen, umfassenden Sinn dieses Wortes verstanden werden. Um diesen Dienst leisten zu können, muss der Hirte mit den "Tieren" im eigenen Inneren umgehen können: An der ambivalenten symbolischen Bedeutung der Metaphern "Schaf", "Wolf" und "Hund", also jener Tiere, mit denen der Hirte vor allem zu tun hat, erläutert Stenger die verschiedenen oft unbewussten Einstellungen und Strebungen im Menschen, die er auch als "blinde Passagiere" bezeichnet, die man einladen sollte, auf Deck zu kommen.

Mensch als Sakrament Dem Satz von Plautus "Der Mensch ist des Menschen Wolf" stellt Stenger eine andere Vorstellung gegenüber: "Der Mensch ist des Menschen Sakrament." Denn "wo Menschen sich in Fürsorge hingeben, ihre Beziehungen gestalten, Macht lebensfördernd ausüben, werden sie zu einem Erweis Gottes, zu einer Art Offenbarung". Das kann im vollen Maß nur unter Gleichgesinnten gelingen, weil es gegenseitiges Vertrauen erfordert, also vor allem in der "Gemeinde als einem Leben ermöglichenden Raum". Allerdings setzt dies voraus, dass es sich bei den Gliedern dieser Gemeinde um "zum Glauben gekommene Getaufte" handelt und dass die einzelne Gemeinde "eine überschaubare Größe nicht übersteigt"; denn "der Hirte kennt die Schafe namentlich". Dann kann die Vision Wirklichkeit werden: "Jeder ist des anderen und der ganzen Gemeinde Hirte." Vermutlich sollte man im Sinn Hermann Stengers statt von einer "kooperativen Pastoral" (durch ein Team von haupt- und ehrenamtlichen Seelsorgern) von einer "geschwisterlichen Pastoral" sprechen. Und wenn nicht Herrschaft, sondern die "geistgewirkte Einheit" oder "Einmütigkeit" das Prinzip des Einsseins der Gemeinde ist, dann müssten die Amtsträger Zeichen und Werkzeug dieser Einmütigkeit sein.

Aber nicht nur in der grundlegenden gegenseitigen Hirtensorge sind alle Christen zugleich Geber und Empfänger, also Hirten und Schafe, sondern jeder Hirte muss nach dem Beispiel von Jesus, dem "Lamm Gottes" (Joh 1,29), noch in einem anderen Sinn zugleich Schaf oder "Lamm" sein: in der Fähigkeit zum Einsatz und notfalls auch zur Hingabe des Lebens. Denn "der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe" (Joh 10,11). Er wird so zum Bild für das Erbarmen Gottes. Mit dieser Hingabe ist nicht eine Selbstzerstörung oder gar ein Menschenopfer gemeint, durch das Gott versöhnt werden müsste, sondern in ihr verwirklichen und gewinnen die Menschen ihr Beziehung-Sein auf radikale und endgültige Weise. Sie haben teil am Schicksal Jesu, des Lammes Gottes, das durch Kreuz und Auferweckung zum siegreichen Hirten geworden ist. Mit den Worten der Offenbarung des Johannes: "Denn das Lamm in der Mitte vor dem Thron wird sie weiden und zu den Quellen führen, aus denen das Wasser des Lebens strömt" (Offb 7,17).

Mit diesem Ausblick auf die Vollendung des Reiches Gottes, das in den Gemeinden der Kirche schon anfanghaft verwirklicht sein soll, schließt Hermann Stenger seine Gedanken über Hirte und Lamm ab und ergänzt sie durch einen instruktiven Bildanhang. Sein Werk zeigt beispielhaft, wie biblische Bilder zu sprechen be-ginnen, wenn sie auf dem Hinter-grund einer entsprechenden - gemeindepastoralen - Praxiserfahrung gedeutet werden.

Der Autor ist Dozent für Pastoraltheologie in Innsbruck.

Im Zeichen des Hirten und des Lammes. Mitgift und Gift biblischer Bilder. Von Hermann M. Stenger. Mit einem Beitrag von Robert Oberforcher. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2000. 368 Seiten, geb., öS 468,-/e 34,01 ZUR PERSON Hermann Stenger wurde 1920 in München geboren. Er trat in den Redemptoristenorden ein. Nach der Theologie studierte er Psychologie in München und ließ sich unter anderem von Igor A. Caruso in Wien zum Psychotherapeuten ausbilden. Seit 1955 lehrte Stenger an der Redemptoristenhochschule in Gars am Inn, 1977-90 war er Professor für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Innsbruck. Stenger baute in München und Innsbruck einen Beratungsdienst für Personen in kirchlichen Berufen auf. Die Theologische Fakultät Innsbruck ehrt Hermann Stenger am 11. Oktober um 17 Uhr mit einem Fest.

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