Ein Zwitter im Osten Europas

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Vor 20 Jahren scheiterte der Augustputsch in der Sowjetunion. Bis heute stellt Russland eine Herausforderung für den restlichen Kontinent dar.

Herrscherwechsel bedeuten in Russland unruhige Zeiten. Die eine Hälfte des Staatsapparats bewegt sich nicht mehr, um ja keine Fehler zu machen, die andere Hälfte spinnt eifrig Intrigen, um ihrem Wunschkandidaten zur Macht zu verhelfen. Dies war unter den Zaren und den kommunistischen Ersatz-Zaren so, und dies hat sich auch im neuen, nachsowjetischen Russland nicht geändert. Halbwegs transparente Auswahlverfahren gab und gibt es nicht; die Öffentlichkeit kann nur zur Kenntnis nehmen, was in den Korridoren des Kreml ausgeheckt wird. Auf diese Weise beförderte das Politbüro die Greise Andropow und Tschernenko und zuletzt Gorbatschew an die Spitze. Auch die Präsidenten Jelzin und Putin zauberten ihre Nachfolger wie Kaninchen aus dem Zylinder, die Zustimmung der Wahlbürger war danach mangels einer echten personellen Alternative und angesichts der übermächtigen staatlichen Propagandamaschinerie nur Formsache. In gut einem halben Jahr steht erneut eine Präsidentenwahl an. Zuvor bestimmen Präsident Medwedew und Ministerpräsident Putin - wie immer hinter verschlossenen Türen -, wer von ihnen beiden die Geschicke des Landes künftig lenkt. […]

Unwürdige Charade von Medwedew und Putin

Medwedew und Putin spielen seit Monaten eine unwürdige Charade, in der nur eines deutlich ist: Medwedew würde gern, aber er weiss nicht, ob er darf. Er ist ein schwacher Präsident, der nur dann abermals zum Zug kommt, wenn es Putin für klüger hält, auch weiterhin die Fäden im Hintergrund zu ziehen. Wie immer, wenn der Kremlherrscher nur eingeschränkt handlungsfähig und die Machtfrage mit Fragezeichen versehen ist, lässt sich die Verunsicherung in Russland mit Händen greifen. Diese historische Kontinuität über die Brüche der jüngeren Geschichte hinweg relativiert auch ein Ereignis, das sich zum zwanzigsten Mal jährt: den Augustputsch einer stockkonservativen Kamarilla gegen die Perestroika. Das Scheitern des Staatsstreiches beschleunigte den Untergang der Sowjetunion und die Entstehung eines demokratischen Staates. Doch steckt eben auch im neuen Russland viel vom alten. […]

Postimperialer Phantomschmerz

Das Land ist von allem ein bisschen und nichts ganz: halbwegs frei und zugleich autoritär, europäisch und isolationistisch. Dies gilt auch für die Aussenpolitik. Das Ende der Ost-West-Konfrontation war einerseits eine tiefe Zäsur, seither ist Russland für die transatlantische Gemeinschaft ein nicht immer einfacher, aber berechenbarer Partner. Im Umgang mit den früheren Sowjetrepubliken kultiviert Moskau jedoch noch immer seinen postimperialen Phantomschmerz. Es setzt dort seine Interessen mit brachialen Methoden von der wirtschaftlichen Erpressung bis zur Gewaltanwendung durch und fördert die reaktionären Kräfte. In der Schuldenkrise, in der die Euro-Länder zusehends mit der europäischen Idee hadern, ist Russland wie ein ferner Spiegel. Moskau betreibt Aussenpolitik noch als reine Machtpolitik, wie man dies bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überall in Europa tat. […] Während sich die einstigen Satellitenstaaten Moskaus der EU mit ihrer auf Kompromiss und Souveränitätsverzicht beruhenden Friedensordnung angeschlossen haben, beharrt das Zentrum des untergegangenen Sowjetreiches auf einem Sonderstatus mit hegemonialen Ansprüchen. Gerade weil Russland so anders ist und einen politischen Gegenentwurf verkörpert, sollte es die Europäer daran erinnern, dass ihre Idee von Europa mehr bedeutet als eine gemeinsame Währung, Eurobonds und Krisengipfel.

* Neue Zürcher Zeitung, 20. August 2011

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