Eine bittere Rolle - gleichzeitig auch Zufluchtsort

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Zwischen dem "irren Einzeltäter“ und dem "rassistischen Humus der Gesellschaft“ spielt die Fraglichkeit der Religion in die Deutungsversuche der norwegischen Tragödie. Eine Analyse von Otto Friedrich

Man wird, was immer rund um die Betrachtungen und Motiv-Erforschungen des norwegischen Attentäters und seines Amoklaufes sonst noch ergeben, nicht umhin können, sich dabei mit der Religion oder religiösen Fragen auseinanderzusetzen.

Es hilft dabei wenig, bei der bereits am Tag nach der Mordtat begonnenen apodiktischen Feststellung zu verharren, bei Anders Behring Breivik handle es sich um einen Einzeltäter mit ausgeprägter Psychopathologie. Seine deformierte Persönlichkeit habe sich lediglich an den in der Gesellschaft aktuell vorfindbaren Schuldzuweisungs-Settings bedient - wenn es nicht der böse Islam gewesen wäre, dann hätte sich der Attentäter eben einen anderen Weltenabgrund zusammengemixt.

Im Sinn der intellektuellen Redlichkeit kann nicht oft genug betont werden, dass es sich bislang bei allen Interpretationen des Geschehens um Schnellschüsse handelt, die grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen sind. Dabei soll an der Wichtigkeit der Psychopathologie gar nicht gedeutelt werden. Nur könnte gut sein, dass Wahrheit und Hintergründe der Unfassbarkeit sich komplexer darstellen, als es in praktischer Verkürzung den Anschein hat. Einmal mehr verbergen sich hinter beinahe jedem eindimensionalen Erklärungsmuster auch ideologische Interessen oder Präferenzen. Dass der Boulevard etwa vorzugsweise sich der These vom "irren Einzeltäter“ bedient, passt in dieses Bild.

Nämliches gilt auch für die gleichfalls praktisch von Beginn an antagonistisch geäußerte "soziologische“ bzw. "politische“ Deutung der Tat: Der gesellschaftliche Humus für solchen Massenmord sei längst vorbereitet, die Rechtspopulisten aller Länder hätten beigetragen zum in der Person von Anders Behring Breivik kulminierenden Aberwitz. Die alltäglichen Rassismen, der stete den Stein des Anstands aushöhlende Tropfen des Ressentiments - insbesondere gegen den Islam - zeige hier perversen Erfolg. Den Anfängen wurde nicht gewehrt. Der Schoß ist fruchtbar. Man sehe, wohin solche Entwicklung münde: Dutzende Tote klagen an.

Körnchen der Wahrheit

In den hier skizzierten Erklärungsversuchen des Geschehens, liegen gewiss Körnchen der Wahrheit verborgen. Es sollte aber im Bewusstsein bleiben, dass die Deutungshoheit über die Vorgänge auch von weltanschaulichen Standpunkten beeinflusst ist. Die Ahnung, dass sich das Geschehen komplexer darstellt, als es die Schlagzeilen suggerieren, sollte jede Erklärung hinterfragen.

Auffällig bleibt: Religiöse Motive spielen in die Tat und das sie umgebende weltanschauliche Wirrwarr massiv hinein. Das zeigt sich auf mehreren Ebenen: Auch die westliche Welt ist konditioniert, religiöse Gewalt - namentlich im Zusammenhang mit dem Islam - grundsätzlich anzunehmen. Typisch, dass in den allerersten Analysen gleich davon die Rede war, es handle sich um ein islamistisches Attentat. Man vermutet heutzutage von Anfang an den religiösen Hintergrund.

Wie der Fall zeigt, ist dieser Hintergrund auch tatsächlich im Spiel - nur waren die Vorzeichen umgekehrt: Nicht entfesselte Muslime treiben es hier, sondern die fatale Verblendung mörderischer Islamangst tritt zu Tage. Fundamentalismen blühen im Islam, aber sie tun es auch in einem christlichen Setting. Die Frage nach der Religion und ihrer Rolle ist und bleibt auf dem Tapet.

Der deutsche Wutbürger Henryk M. Broder, einer der eifrigsten Alarmisten in der Islam-Debatte, hat sich zur Causa zu Wort gemeldet - zumal er ja in Anders Behring Breiviks "Manifest“ prominent zitiert wird: "Breivik wusste, dass er seine Tat ‚rational‘ begründen muss. Und das hat er nicht bei mir und Thilo Sarrazin gelernt, sondern bei Mohammed Atta und Osama Bin Laden, bei den Attentätern von Madrid, London, Mumbai, Bali; bei Carlos, dem Schakal, und den ‚Märtyrern‘, die ein Video aufnehmen, bevor sie ins Paradies aufbrechen“, so Broder in der Tageszeitung Die Welt. Dass Broder Breivik in einen Topf wirft mit den Attentätern von 9/1, mag aberwitzig klingen, passt aber genau in sein sorgsam gepflegtes Weltbild.

Das 1500-seitige "Manifest“ des Attentäters ist gespickt mit religiösen Bezügen und Wirrheiten. Eine Fabulierkunst ist dabei, die einem Dan Brown alle Ehre machte: Als eine Art wiedergeborener Tempelritter sieht sich der Schreiber der Fantasien und eben als Verängstigter vor den muselmanischen Scharen, die sich anschicken, Europa zu erobern. Bei Breivik liest sich das wirr, aber - ob Henryk M. Broder will oder nicht - die Alarmisten liefern das passende Argument.

Apokalypsen anno 2011

Eine bittere Rolle, welche die Religion hier spielt. Apokalypsen sind 2011 weiter verbreitet, als man gerne hätte. Und sie sind religiösen Ursprungs. Das wurde schon beim Schlächter von Oklahoma, Timothy McVeigh (168 Tote anno 1998), der einen eindeutig christlichen Hintergrund hatte, thematisiert, natürlich bei Mohammed Atta und seinem "Testament“ nach 9/11, wo das islamische Pendant einer Endzeitfantasie ans Licht kam, und nun eben bei Anders Behring Breivik. Es wird auch nach den Ereignissen von Norwegen nicht erspart bleiben, sich mit genau dieser Fraglichkeit der Religion auseinanderzusetzen.

Es ist aber die Religion, die auch auf der "Gegenseite“ ins Rampenlicht kommt: Die entsetzte Gemeinde versammelte sich in der Kirche, der König weinte, ein erstarrtes Volk suchte Zuflucht und Trost. Wo denn, wenn nicht bei der Religion, wären Trost und Hoffnung der Menschen sonst aufgehoben?

Es bedarf wohl keines Beispiels mehr, um klarzulegen, dass die Religion an allen Ecken und Enden mitspielt.

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