Eine Frau als Nachfolgerin Calvins

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"Wir können in der Kirche nicht weiterfahren wie bisher!" warnt Isabelle Graesslé, 42. Als erste Frau seit 460 Jahren steht die Universitätstheologin und Pfarrerin der reformierten Kantonalkirche Genfs für drei Jahre als Moderatorin vor. Reformator Calvin hat die Institution im Jahre 1541 ins Leben gerufen.

Die grauen Wohnblöcke an der Rue Gourgas in Genfs Plainpalais-Quartier erinnern an den fundamentalen Betonglauben der sechziger Jahre.

Mitten drin das mausgraue Kirchengebäude mit dem "Centre protestant d'Études", dem Arbeitsort von Isabelle Graesslé, wo sie dem Bildungsdienst für Erwachsene der Genfer Kirche vorsteht.

Null Lust auf Kirche

Wattiert grau auch das Wetter an diesem kalten Dezember-Tag in der schweizerischen Rhône-Stadt. Umso auffälliger der Kontrast: Die 42-Jährige mit den kastanienbraunen Haaren, die einem wenig später in der spartanisch eingerichteten Bibliothek des Zentrums in roter Lederjacke, schwarzem Rollkragenpulli und mit freundlichem Lächeln gegenüber sitzt, spricht nicht die wolkige Diplomatensprache, wie sie Kirchenleute aller Denominationen üblicherweise gerne pflegen. Isabelle Graesslé freimütig: "L'Église ne donne plus envie à beaucoup de gens. - Die Kirche macht heute vielen Menschen keine Lust mehr." Und deshalb hätten viele Zeitgenossen immer noch das Bild einer Kirche in sich, "die bloß langweilig und staubig ist".

Kein Blatt vor den Mund nahm die gebürtige Elsässerin diesen Herbst, als eine Studie einen besorgniserregenden Rückgang der Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Bestattungen in den reformierten Kantonalkirchen der Schweiz dokumentierte. Es seiheute nichts weniger denn eine "grundlegende Reform des westlichen Protestantismus" notwendig, warnte sie in ihrem Kommentar. Und: "Wir müssen uns damit abfinden, dass unsere Tradition früher oder später dem Untergang geweiht ist, wenn sich nicht bald eine in ihrer Bedeutung mit der protestantischen Reformation des 16. Jahrhunderts vergleichbare Bewegung bemerkbar macht."

Verheißungsvolle Anzeichen eines Neuaufbruchs gebe es allerdings im westeuropäischen Protestantismus durchaus, unterstreicht die Theologin. Beispielhalber erzählt sie, was sie vor Jahresfrist im finnischen Helsinki erlebt hat: Dort besammeln sich jeden Sonntag Abend - und dies schon seit 1988 - bis zu tausend zumeist kirchendistanzierte Menschen in einer lutherischen Kirche zur so genannten "Thomasmesse". Der zweistündige Gottesdienst "für Suchende und Zweifelnde", benannt nach Thomas, dem ersten Zweifelnden des Evangeliums, will insbesondere die Sehnsucht vieler Christen nach erfahrbarer Spiritualität ernst nehmen und baut darauf, dass Sinn sich durch sinnliche Erfahrung vermitteln lässt.

Das Überraschendste an dieser Thomasmesse - bei der sie sich keine Minute gelangweilt habe, obwohl sie doch kein Finnisch verstehe - sei für sie gewesen, dass sich unter den Teilnehmenden besonders viele 30- bis 40-Jährige befunden hätten, schilderte Isabelle Graesslé: "Und genau diese Generation sieht man in unseren Kirchen normalerweise ja kaum mehr".

Prüfung des Übergangs

Für sie steht außer Zweifel, dass selbst in Europa, wo die Aufklärung die Einstellung zur Religion nachhaltig verändert hat, von einem Verschwinden des Religiös-Spirituellen nicht die Rede sein kann. Zwar habe die Individualisierung nachhaltige Spuren im religiösen Verhalten hinterlassen, aber just dieses Verhalten sei derzeit in Neubildung begriffen. Angesichts der neuen spirituellen Nachfrage hätten die Kirchen indessen noch kaum eine Antwort, analysiert Graesslé: "Wir wissen zwar, dass wir nicht mehr so weiterfahren können wie bisher. Wir können im 21. Jahrhundert nicht einfach Antworten aus früheren Jahrhunderten servieren. Doch gleichzeitig ist es ebenso fruchtlos, die Kirche der Zukunft zu entwerfen, wenn wir uns nicht zuvor ganz genau darüber klar geworden sind, was die Kirche tun muss, um in diese Zukunft zu gelangen."

Die Kirche stehe heute an einem Scheideweg und komme deshalb um diese "épreuve du passage - Prüfung des Übergangs" nicht herum, die zwei wesentliche Fragen beinhalte: "Was muss die Kirche hinter sich lassen, um in die Zukunft gehen zu können? Und: Was muss sie tief in ihrem Gedächtnis bewahren, weil es nämlich von konstitutiver Bedeutung ist?" Sie sei in ihrem eigenen Glauben davon überzeugt, dass das Evangelium neue und noch ungeahnte Formen von Kirche ermögliche: "Wir haben den Reichtum der Bibel noch lange nicht ausgeschöpft!"

Zu glauben anfangen

Just darüber, nämlich über den aktuellen Stand der Theologie, will sich die Moderatorin der "Compagnie des pasteurs et des diacres" im Jänner mit ihren 34 Kolleginnen und 68 Kollegen an der traditionellen dreitägigen Fortbildungsveranstaltung unterhalten; Überschrift der Tagung: "Théologie, où en es-tu? - Theologie, wo stehst du?" Als Moderatorin hat Isabelle Graesslé nämlich nicht nur die Aufgabe, die Genfer Pfarrerschaft nach außen zu vertreten sowie deren Ansprechpartnerin in spirituellen und seelsorgerlichen Fragen zu sein, sondern auch zu veranlassen, dass die theologische Fortbildung der Pfarrer und Diakone den gebührenden Raum erhält.

Calvins Nachfolgerin geht allerdings dezidiert mit der Zeit: "Ich empfehle meinen Kolleginnen und Kollegen, Radio zu hören, Fernsehen zu schauen, in Nachrichtenmagazinen zu blättern und andere Bücher als theologische zu lesen. Denn oft stelle ich mit Besorgnis fest, dass zwischen ihnen und der heutigen Gesellschaft ein Graben klafft." Und noch etwas will sie den Pastoren und Diakonen ans Herz legen, aber das sage sie den Studentinnen und Studenten auch immer wieder, die sie gelegentlich bei ihrer Pfarrerausbildung begleite: "Wenn ihr nichts zu sagen habt, dann sollt ihr auch nicht predigen!"

Damit sie jedoch etwas zu sagen hätten, müssten sie sich eben die nötige Vorbereitungszeit dafür nehmen und weniger Wichtiges, zum Beispiel endlose Sitzungen und Strukturdiskussionen, hintanstellen. Punkt. Denn eines sei unter den heutigen Umständen nahezu unverzeihlich, sagt Calvins Nachfolgerin für die Jahre 2001 bis 2003 lächelnd: wehrlose Kirchgängerinnen und Kirchgänger zu langweilen und/oder mit Unverständlichem zu belästigen.

Inzwischen ist es dunkel geworden, und rund um Genfs Bahnhof brüllt schon der Vorabendverkehr. Mitten drin, vom Verkehrslärm umtost, die Basilika Notre-Dame. Drinnen flackern Kerzen um die Marienstatue, Menschen verweilen, kommen und gehen. Draußen am frostbeschlagenen Anschlagbrett hängt ein Plakat: "Recommencer à croire - Wieder anfangen zu glauben". Es lädt zu elementaren Glaubenskursen für Getaufte ein, die, wie man mir sagt, auf beträchtliches Echo stoßen.

Der Autor ist Redaktionsleiter der katholischen Presseagentur Kipa in Fribourg/Schweiz.

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