Evangelikale und Katholiken: Eine gemeinsame Mission?

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Noch vor wenigen Jahrzehnten schien eine Ökumene zwischen Evangelikalen und Katholiken undenkbar. Die wechselseitigen Wahrnehmungen haben sich inzwischen stark verändert.

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Noch vor wenigen Jahrzehnten schien eine Ökumene zwischen Evangelikalen und Katholiken undenkbar. Die wechselseitigen Wahrnehmungen haben sich inzwischen stark verändert.

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Die evangelikale Bewegung versteht sich als transkonfessionelle und internationale Missions- und Erneuerungsbewegung. Geht man von einem weiten Begriff des Evangelikalismus aus, so müssen auch pfingstliche und charismatische Bewegungen als Ausprägung des Evangelikalismus gelten. Denn auch Charismatiker machen sich die zentralen Anliegen Evangelikaler zu eigen: die Betonung der Notwendigkeit persönlicher Glaubenserfahrung in Buße, Bekehrung und Heiligung sowie die Suche nach Heils- und Glaubensgewissheit, die Betonung der Geltung der Heiligen Schrift als höchster Autorität in Glaubens- und Lebensfragen, die Betonung von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi, die Betonung des Gebetes und Zeugendienstes als Zentrum der Frömmigkeitspraxis, die Hervorhebung des Evangelisations- und Missionsauftrages. Darüber hinaus praktizieren sie eine auf den Heiligen Geist und die Charismen (Zungenrede, Prophetie, Heilung …) bezogene Frömmigkeit. In den einzelnen Kontinenten haben evangelikale Bewegungen verschiedene Profile entwickelt.

Unterschiedliche Typen von Evangelikalen

In Europa geht es neben konfessionsübergreifenden missionarischen Aktivitäten auch darum, überschaubare Ergänzungen und Alternativen zu evangelisch-landeskirchlichen bzw. volkskirchlichen Einrichtungen zu entwickeln. In Südafrika setzen sich evangelikale Kreise kritisch mit ihrer eigenen Tradition auseinander und sind darum bemüht, Evangelisation und soziale Verantwortung in einen engen Zusammenhang zu bringen. Sowohl die Frömmigkeitsformen wie auch die theologischen Akzente im Schriftverständnis, in den Zukunftserwartungen, im Verständnis von Kirche und Welt weisen kein einheitliches Bild auf. Insofern ist zu fragen, mit welchem Recht von den Evangelikalen gesprochen werden kann, da sich die Bewegung in unterschiedliche Typen ausdifferenziert: klassischer Typ, fundamentalistischer Typ, bekenntnisorientierter Typ, charismatischer Typ …

In konfessioneller Hinsicht sind Evangelikale dem Protestantismus zuzuordnen, im deutschsprachigen Kontext gleichermaßen dem volkskirchlichen wie dem freikirchlichen. Die Pluralität des Protestantismus (lutherisch, reformiert, methodistisch, baptistisch, mennonitisch …) spiegelt sich auch in der evangelikalen Bewegung, die in den Ausdrucksformen der Frömmigkeit in mancher Hinsicht vergleichbar ist mit neuen geistlichen Bewegungen, den "Movimenti“, auf römisch-katholischer Seite: Es geht um ganzheitliche Glaubenserfahrung, um religiöse Vergewisserung und Gemeinschaftsbildung in flexiblen Strukturen. Die Glaubensvermittlung erfolgt unter Berücksichtigung der Glaubensbiografie. Die Verantwortung der Laien wird besonders hervorgehoben. Der Heilungsauftrag der christlichen Gemeinde (etwa in charismatischen Gruppen) bzw. die ganzheitliche Evangelisierung erfahren eine besondere Betonung. Einführungskurse in den christlichen Glauben und die Akzentuierung der evangelistischen Praxis sind wesentliche Ausdrucksformen der Glaubensvermittlung. Modernitätskritik ist ebenso ein Merkmal dieser Frömmigkeitsformen wie das Bemühen um eine neue Inkulturation des Christlichen in den Kontext der modernen Welt.

Veränderte Wahrnehmungen

Im Unterschied zur ökumenischen Bewegung, in der Kirchen miteinander Gemeinschaft suchen und gestalten, steht hinter der evangelikalen Bewegung das Konzept einer evangelistisch-missionarisch orientierten "Gesinnungsökumene“, in der ekklesiologische Eigenarten und Themen bewusst zurückgestellt und im evangelistisch-missionarischen Engagement und Zeugnis der entscheidende Ansatzpunkt gegenwärtiger ökumenischer Verständigung und Verpflichtung gesehen wird.

Das Verhältnis zwischen römisch-katholischer Kirche und der evangelikalen Bewegung gestaltete sich viele Jahrzehnte von beiden Seiten als distanziert und abgrenzend. Gegenden mit mehrheitlich katholischer Bevölkerung galten für Evangelikale als Missionsgebiete. Man ging davon aus, dass katholische Frömmigkeit "sakramental“ und damit formal bestimmt ist. Umgekehrt sahen Katholiken in Evangelikalen protestantische Sektierer. Ihre missionarischen Aktionen wurden unter dem Stichwort Proselytismus wahrgenommen.

Diese wechselseitigen Wahrnehmungen haben sich inzwischen verändert. Nicht die Abgrenzung steht im Vordergrund, sondern die Frage, wofür Evangelikale und Katholiken gemeinsam öffentlich eintreten können. Neue geistliche Bewegungen, die ökumenisch ausgerichtete Spiritualität evangelischer Kommunitäten, die charismatische Bewegung, durch die protestantisches Erweckungschristentum Eingang in den Kontext der katholischen Kirche fand, haben zu diesen Veränderungen beigetragen. Neben der offiziellen Kooperation von Kirchen und den wichtigen Impulsen der ökumenischen Theologie hat sich eine neue Perspektive zur Verständigung auf der Basis gleichartiger Glaubenserfahrungen und -überzeugungen entwickelt, die auch im Zusammenhang des Papstbesuches in Deutschland 2011 erkennbar wurde: Leitungspersonen des evangelikalen protestantischen Spektrums bekundeten offen ihre Sympathie und ihren großen Respekt für Papst Benedikt. Der römische Katholizismus sieht heute die Notwendigkeit, mit Vertretern der World Evangelical Alliance (WEA) Lehrgespräche zu führen. Von beiden Seiten sind in den letzten Jahren gemeinsame Anliegen entdeckt worden: in ethischen Orientierungen, etwa zu den Themen Ehe und Familie, Homosexualität, Lebensschutz am Anfang und Ende des Lebens. Vor allem die Evangelisierung Europas wird als zentrale Aufgabe beiderseits unterstrichen. In seiner Modernitäts- und Relativismuskritik spricht Papst Benedikt vielen Evangelikalen aus dem Herzen, ebenso in seinen religionstheologischen Überlegungen (vgl. Dominus Jesus), seinen hermeneutischen Anliegen und der Christuszentriertheit vieler seiner Predigten.

Ökumene im "betenden Bedenken der Bibel“

Die beiden Bücher des Papstes "Jesus von Nazareth“ haben in evangelikalen Kreisen ein überaus positives Echo hervorgerufen. Dabei wird etwagelobt, mit welcher Entschiedenheit der Papst die Autorität und Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift hervorhebt. Evangelikale und Katholiken sprechen von einer "geistlichen Ökumene“, die in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen sei und die der Konsens- und Konvergenzökumene, die in Kommissionen stattfinde, etwas hinzufüge, was sich aus gemeinsamen Erklärungen nicht zwangsläufig ergebe, "eine Ökumene des gemeinsamen Lesens und betenden Bedenkens der Bibel als Wort Gottes und als Wegweisung Gottes für unser Leben“ (Kardinal Walter Kasper).

Angesichts des bisherigen Verhältnisses zwischen römischem Katholizismus einerseits und Evangelikalismus anderseits ist von erkennbaren Annäherungen und einer grundlegenden Veränderung des Stils zu sprechen. Bisher waren solche Annäherungen für einzelne Ökumeniker denkbar, für die meisten Evangelikalen schlechterdings nicht vorstellbar. Im Kontext einer fortschreitenden Verdunstung des Christlichen in unserer Gesellschaft und einem wachsenden weltanschaulichen Pluralismus treten gemeinsame missionarische, diakonische und pastorale Herausforderungen in den Vordergrund. Es ergeben sich neue Koalitionen, die allerdings in anderen protestantischen und katholischen Milieus auch Irritationen hervorrufen.

Der Autor leitet die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin.

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