Eine runde Hoffnung

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Kein Mensch wird als Verbrecher geboren - er stirbt höchstens als einer. Nach diesem Motto fördert Lom in Bulgarien seine Kinder und gibt Beispiel. Durch Fußball.

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Kein Mensch wird als Verbrecher geboren - er stirbt höchstens als einer. Nach diesem Motto fördert Lom in Bulgarien seine Kinder und gibt Beispiel. Durch Fußball.

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Daniel Iliew ist klein für sein Alter, keine 1,50 Meter groß, doch wenn der Zwölfjährige mit dem Ball am Fuß los stürmt, ist er kaum aufzuhalten. Daniel spielt in halbrechter Position beim FC Pomolie im bulgarischen Lom, und was ihm an Länge fehlt, kompensiert er mit Geschwindigkeit und Agilität. Und mit Kraft. Denn, wie man hier im Nordwesten Bulgariens sagt, Jungs wie Daniel wachsen auf "trockenem Boden". Sie sind zäh. Das ist das, was später womöglich den Unterschied ausmacht, sollte Daniel tatsächlich seinen Traum verwirklichen.

Sein Traum ist der von so vielen Jungs seines Alters: der des Fußballprofis. Für Daniel allerdings ist es keine Träumerei. Wer in Bulgarien ein guter Fußballspieler ist, der kann nicht nur Profi werden, sondern auch an einer der Sporthochschulen im Land studieren, um Sportlehrer, Trainer oder Manager zu werden. Kurzum, wer ein guter Fußballspieler ist, kann der Armut und Hoffnungslosigkeit des Nordwesten Bulgariens entkommen.

Auf den ersten Blick sieht Lom mit seinen knapp 22.000 Einwohnern nicht anders aus als andere Kleinstädte in der bulgarische Provinz auch. Vom Ufer der Donau aus führt eine grüne, schattenreiche Geschäftsstraße an verfallenen Häusern im Jugendstil vorbei zum Zentralplatz, der groß genug ist für Militärparaden und von einem sowjetischen Kriegsdenkmal dominiert wird. Die Innenstadt entspricht dem Standartplan einer bulgarische Stadt.

Abseits der Straße

Wer jedoch von der Hauptstraße abkommt, befindet sich sogleich auf unbefestigten Wegen mit Löchern so tief, dass man in ihnen die Geschichte der Stadt ablesen kann. Und während in anderen Kleinstädten trendige Angebote, Cafés und Restaurants die Straßen füllen, sind in Lom viele Ladenpassagen dunkel und leer. Die Geschäfte, die geöffnet haben, bieten auffällig häufig Second Hand Kleidung an, manchmal beworben als "Einfuhr aus Deutschland", immer aber "für jeden Geldbeutel".

In Lom ist dieser Geldbeutel nicht sehr reich gefüllt. Der Nordwesten Bulgariens ist die ärmste Region in der Europäischen Union. Das Durchschnittseinkommen liegt bei nur 26 Prozent des europaweiten Mittelwerts, und die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei über 30 Prozent, beinahe drei Mal so hoch wie der Landesdurchschnitt. Zudem hat die Hälfte der Arbeitslosen in Lom nur einen Volksschulabschluss. Eine bulgarische Weisheit lehrt, eine Hafenstadt könne nicht arm sein, aber Lom - der zweitgrößte Hafen an der Donau - beweist das Gegenteil.

Die Industrie, die es hier früher gab, produzierte hauptsächlich für die Sowjetunion. Der Lomer Hafen lebte von der Zufuhr von Rohstoffen aus der UdSSR für das bulgarische Stahlwerk in Kremikowtsi, das wiederum mit seinen Produkten den sowjetischen Markt beliefert hat. Dem Zusammenbruch des osteuropäischen Wirtschaftsraums folgte der Zusammenbruch der bulgarischen Wirtschaft. Die Fabriken und der Hafen in Lom haben sich davon nie wieder erholt. Diesem Elend versuchen Jungs wie Daniel auf dem Fußballfeld zu entkommen. "Es ist sehr wichtig, dass es für die Kinder diese Möglichkeit gibt. Dass sie nicht den ganzen Tag hinter dem Computer sitzen oder auf der Straße herumlungern", sagt Taxifahrer Ewgeni Jordanow.

Zusammen mit einigen Freunden gründete er vor drei Jahren den FC Polomie. Ein Jahr später erschien auch der FC Almus auf der Bühne, sodass es heute in Lom zwei miteinander konkurrierende Fußballclubs gibt. "Die Leute hier lieben Fußball", erklärt Jordanow. "Wir haben jetzt sechzig Kinder und vier Mannschaften. Jedes Jahr wächst der Club um eine weitere Mannschaft."

Training mit Kindern

Die beiden Vereine werden von der Stadtverwaltung unterstützt. Die Clubs teilen sich die städtischen Sportanlagen: einen neuen Sportplatz, der so intensiv genutzt wird, dass er schon nach eineinhalb Jahren alt aussieht, ein verfallenes Stadion, in dem es beißend nach Urin riecht und auf dem angrenzenden Grün Schafe, Ziegen und Pferde den Spielen zuschauen und eine fünfzig Jahre alte Sporthalle, wo es durch das Dach tropft und im Winter drinnen kälter ist als draußen.

"Alles ist zerstört", schimpft Jupiter Kostadinow, der Verwalter der Sporthalle, ehemaliger Boxer, Restaurantbetreiber und Kriminalpolizist. "Trotzdem trainieren hier jeder Woche 250 Kinder: Fußball, Basketball, Volleyball, Boxen. Und aus diesem Elend werden Meister geboren. Zwei unserer Mädchen boxen in der Nationalmannschaft. Das eine Mädchen studiert jetzt Medizin in Ruse, und das andere wird nach dem Sommer in die Sporthochschule in Sofia gehen", erzählt Polizist Kostadinow mit Stolz. Und seufzt nach einer Pause: "Weshalb sollten sie bleiben? Lom stirbt."

Mit wenig Geld und seinen eigenen Händen versucht Kostadinow die Halle instand zu halten. Den alten Holzfußboden hat er kürzlich erst selbst neu gestrichen, sodass die Linien und Felder der unterschiedlichen Sportarten wieder klar erkennbar sind. "Tausend Quadratmeter. Tagelang bin ich in die Knie gegangen. Aber alles für die Kinder."

Das könnte das Motto der Lomer Sportvereine sein. Auch die beiden Fußballclubs überleben nur dank dem ehrenamtlichen Engagement ihrer Gründer und Trainer. Sind bei Auswärtsspielen die Busse der Stadtverwaltung nicht verfügbar, laden sie die Kinder kurzerhand in die eigenen Autos oder in das Taxi von Jordanow, einem alten Lada, an dem die Beifahrertür klemmt und die Scheinwerfer auf schönes Wetter warten.

Kinder, die wie Daniel in den Dörfern außerhalb der Stadt wohnen, bringen sie abends nach dem Training nach Hause, da sie sonst nicht heim kommen würden. Und gibt es ein Turnier, zahlen sie selbst für die Trophäen.

Wichtiger als der Sport

"Was sollten wir anderes machen?" fragt Jordanow. "Viele Eltern sind arbeitslos und können kaum die monatlichen Mitgliedsbeitrag von fünf Euro zahlen. Und die Gemeinde hat auch kein Geld. Betriebe gibt es kaum noch und die wenigen, die es noch gibt, haben Schulden. Wir haben keine Sponsoren. Jede neue Verwaltung sagt, dass sie die Armut im Nordwesten bekämpfen will, doch passieren tut nichts. Aber wir wollen, dass es für die Kinder in Lom etwas gibt."

Dabei geht es um ein viel wichtigeres Ziel als den Sport selbst. "Natürlich ist es wichtig, dass die Kinder sich bewegen und etwas zu tun haben", sagt Wiktor Petkow, Musiklehrer und einer der Gründer und Trainer des FC Pomolie. "Denn durch den Sport lernen sie zusammenzuarbeiten und Toleranz."

In einer Stadt wie Lom ist das eine wichtige Lehre: mehr als 40 Prozent der Einwohner sind Roma. Nirgendwo in Europa ist der Prozentsatz so hoch. "Und", so fährt Petkow fort, "dadurch, dass die bulgarischen Kinder mit den Romakindern zusammen in einer Mannschaft spielen, lernen sie, dass kein Mensch als Verbrecher geboren wird. Ein Mensch stirbt nur als Verbrecher."

Und noch ein Ziel hat der Sport. So erzählt Wiktorija Iliewa, Kindergärtnerin und Mutter von Daniel, dass die Kinder so Disziplin lernen, auch in der Schule. "Ich sag Daniel immer, dass ein guter Fußballspieler nicht nur hinter dem Ball her rennt, sondern dass er auch denken kann." Sie unterstützt seinen Sport, doch dafür soll er auch arbeiten und in die Schule gehen. Und dafür steht er jeden Morgen um sechs auf, um rechtzeitig in der Stadt zu sein.

Auf dem Feld des heruntergekommenen Stadions "Mladen Jordanow" erkämpft sich Daniel den Ball und schießt im Derby gegen den FC Almus das erste Tor. Doch trotz seines Könnens ist der FC Pomolie an diesem Sonntagmorgen chancenlos, denn es sind nur neun Spieler erschienen, von denen dann auch noch einer verletzt ausfällt. Am Ende steht es 6:3 für den Rivalen. Doch auch die jungen Spieler vom FC Almus träumen von einer besseren Zukunft, weg vom "trockenen Boden".

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