Eine Sache der Weltanschauung

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Evangelische Theologen kommen dieser Tage nach Wien; sie diskutieren, was die Theologie zur modernen Sozialethik beitragen kann.

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Evangelische Theologen kommen dieser Tage nach Wien; sie diskutieren, was die Theologie zur modernen Sozialethik beitragen kann.

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Es ist paradox: Einerseits zählt der Grundsatz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde zu den Selbstverständlichkeiten der westlichen Gesellschaften. In vielen hat er Verfassungsrang, und in allen ist er als oberstes Kriterium des öffentlichen Ethos anerkannt. Anderseits sind jedoch alle Anwendungen dieses Kriteriums notorisch strittig.

Strittig ist, was in der persönlichen Lebensführung - bei der Gestaltung von Partnerschaft und Sexualität, von Lebenszeit und Gesundheit - der Würde des Menschen entspricht. Ebenso strittig ist, welchen Umfang individueller Freiheitsrechte gegenüber der Ordnung des Zusammenlebens die Würde des Menschen verlangt. Welcher Einsatz der Medien wahrt sie oder verletzt sie? Welche Formen politischer Machtausübung und des politischen Kampfes, des Arbeitens und des Wirtschaftens? Heißt Freiheit der Wissenschaft Neutralität gegenüber Fragen der Menschenwürde? Was entspricht der Würde des Menschen beim Umgang mit dem Beginn und dem Ende des Lebens? Dies alles ist strittig - nicht nur zwischen der westlichen Welt und anderen Kulturkreisen, sondern in der westlichen Welt selbst.

Vorwissenschaftliches Verständnis Die Auflösung dieses Paradoxes liegt im Zusammenhang von drei unbestreitbaren Tatsachen: * Jede Antwort auf die genannten Fragen setzt irgendein bestimmtes Verständnis davon voraus, worin die nicht anzutastende Würde des Menschen ihrem Inhalt nach besteht.

* Jedes derartige Verständnis gründet seinerseits de facto in einem "Menschenbild".

* Keines dieser Menschenbilder kann zwingend widerlegt oder bestätigt werden. Das Menschenbild ist Sache der vorwissenschaftlichen Lebensüberzeugung, der Weltanschauung, zu der auch die Religionen zählen.

Angesichts der Vielzahl der Weltanschauungen wird die verbindliche Definition des Menschseins als Grundlage ethischer Entscheidungen unmöglich. Das wurde etwa 1997 am "Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin" des Europarats deutlich: Nach langer Kommissionsarbeit blieb der Verzicht auf eine grundlegende Definition des Menschseins der einzig gangbare Weg.

Wahrheit und Pluralismus Diese Schwierigkeit, unter Berufung auf die Würde des Menschen zu Handlungsentscheidungen zu gelangen, die öffentlich als sachgemäß ausgewiesen werden können, betrifft jedes Ethos, nicht nur das christliche. Zunächst könnte man annehmen, das Christentum und die Theologie seien von der Schwierigkeit deshalb nicht betroffen, weil es im christlichen Glauben überhaupt nicht um ein besonderes Ethos gehe, sondern nur um die aus dem Vertrauensglauben an Gottes Walten stammende Bereitschaft, dem jeweils herrschenden allgemeinen Ethos in Hingabe zu dienen.

Derartige Positionen verkennen, daß der Glaube nur deshalb den Charakter des Vertrauens trägt, weil er Gewißheit von der Wahrheit des Lebenszeugnisses Jesu Christi für das Menschsein vor Gott ist. Darüber, wie diese Gewißheit zustandekommt, herrscht zwischen reformatorischer und römisch-katholischer Tradition Dissens, nicht aber darüber, daß der christliche Glaube ein inhaltlich unverwechselbares Verständnis ist von Mensch und Welt, ihrer Verfassung, ihrem Ursprung und ihrer Bestimmung mit ebenfalls unverwechselbarer ethischer Orientierungskraft. Ebendeshalb wird er auch von all den Schwierigkeiten betroffen, die sich aus dem Pluralismus der Weltanschauungen ergeben.

Entgegen einer verbreiteten Unterstellung kann der christliche Glaube diesen Pluralismus nicht als illegitim bekämpfen, sondern muß ihn gerade aufgrund seines eigenen Verständnisses des Menschen vor Gott anerkennen. Dagegen spricht nicht, daß das Christentum staatlichen Angeboten einer Monopolstellung nicht immer widerstanden hat. Auch das christliche Leben ist nicht gegen Mißachtung seiner eigenen Prinzipien gefeit.

Untaugliche Lösungen Christentum und Theologie müssen sich auch ihrerseits mit den Versuchen auseinandersetzen, der genannten Schwierigkeit Herr zu werden. Folgende Lösungen sind im Gespräch: 1. Menschenbild als Privatsache? Man könnte die Abhängigkeit des Kriteriums "Menschenwürde" auf die Sphäre des privaten Ethos einzuschränken versuchen. Aber heute muß sich die Unterscheidungskraft dieses Kriteriums gerade an Problemlagen bewähren, die durch die Anwendung von Techniken mit unvergleichlich tiefer Eingriffswirkung entstehen, wie Gentechnik, Nukleartechnik, EDV. Diese können nicht "privat", sondern müssen vom Gesetzgeber öffentlich entschieden werden.

2. Rückzug aufs Formale? Man kann zu bestreiten versuchen, daß "Menschenwürde" für seine Anwendung auf eine inhaltliche Füllung angewiesen, und diese in einem bestimmten weltanschaulichen Menschenbild verwurzelt sei. Dann muß man zeigen, daß das Konzept "Menschenwürde" seine Unterscheidungs- und Entscheidungskraft aus rein formalen Gesichtspunkten gewinnt, vor allem aus dem Kriterium der widerspruchsfreien Universalisierbarkeit ethischer Normen. Es läßt sich aber aufweisen, daß es keine Anwendung dieses Kriteriums geben kann und gibt, die nicht zumindest implizit von einer inhaltlichen Füllung abhängt und damit von einem vorausgesetzten Menschenbild. Zwar könnte man versuchen, auf das Menschenbild der Biologie, der Medizin, der Psychologie, der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaft, der Pädagogik zurückzugreifen. Aber diese Menschenbilder zeigen, daß sie nicht Ergebnis empirischer Forschung sind, sondern Konzepte, die die Forschung schon im voraus leiten. Auch sie sind vorwissenschaftlicher Herkunft.

3. Anpassung und Selbsterhaltung? Die radikalste Lösung des Problems besteht darin, dem Konzept "Menschenwürde" selbst jede Unterscheidungs- und Entscheidungsfunktion offen abzusprechen - wie im Sozialordnungsprogramm des Behaviorismus, das ein friedliches Zusammenleben "jenseits von Freiheit und Würde" durch optimale Umweltanpassung des menschlichen Lebens erreichen will (B. F. Skinner); oder durch Bestreitung einer besonderen Würde des Menschen gegenüber anderen Formen des Lebendigen (Albert Schweitzer) oder wenigstens des empfindungsfähigen Lebens (Peter Singer); oder durch biologische oder systemtheoretische Erklärung aller Ordnung des Zusammenlebens, wobei die systemkonstituierende Rolle von Personalität geleugnet wird (Niklas Luhmann). Aber hat dieses Konzept nicht selbst ein weltanschauliches Überzeugungsfundament?

4. Privilegierung des Menschenbilds der Rechtsordnung? Man kann mit dem Problem des Pluralismus dadurch fertig zu werden suchen, daß man ihn grundsätzlich einschränkt. Dann wird unterschieden zwischen einem dem Pluralismus überlassenen privaten Bereich weltanschaulicher Menschenbilder und etwa dem Menschenbild der Rechtsordnung, das einen oberhalb des Pluralismus angesiedelten Konsens über das Wesen des Menschen enthält und damit ein bestimmtes Menschenbild privilegiert. Aber woher kommt dieser Konsens? Schon diese Frage, erst recht aber jede Antwort führt zurück auf eine der obigen Positionen.

Der Beitrag der Theologie Die Teilhabe an dieser Problematik verbindet Christentum und Theologie mit jedem anderen Ethos. Sie unterscheiden sich nur dadurch, daß sie selbst auf die inhaltliche Bestimmtheit des christlichen Menschenbildes festgelegt sind. Dieses sieht den Menschen als geschaffenes Ebenbild Gottes, dem "Gerechtigkeit" im Verhältnis zu seiner Umwelt, zu allen Mitmenschen und zu Gott zugemutet ist. Diese Zumutung kann aber nur erfüllt werden, wenn sie angemessen verstanden wird, wozu es eines Bildungsprozesses bedarf, der Nichtverstehen und Nichterfüllung der Zumutung einschließt. Da Menschen ihre Bildung nicht in der Hand haben, sondern nur erleiden können, werden sie nicht aus eigener Kraft gerechtigkeitsfähig gemacht, also frei zum Tun der Gerechtigkeit aus Vertrauen in das Wollen und Wirken des Schöpfers als das schlechthin Gute.

Nur mit dieser Sicht vereinbare Lösungen können akzeptiert werden; dafür dürfte keine der genannten in Betracht kommen. Scheidet das christliche Menschenbild als Fundament öffentlicher Entscheidungen somit aus? Nach christlichem Selbstverständnis nicht. Vielmehr könnte die theologische Aufarbeitung dieser Schwierigkeiten ein doppeltes leisten: * Sie kann die Problematik durchsichtig machen, die sich für jedes Ethos der Menschenwürde aus der Notwendigkeit einer inhaltlichen Füllung, ihrer Begründung in einem vorwissenschaftlichen Menschenbild und dem Pluralismus der Weltanschauungen ergibt.

* Sie hat die Aufgabe, am Beispiel des Christentums zu zeigen, daß und unter welchen Bedingungen die realistische Übernahme eines uneingeschränkten weltanschaulichen Pluralismus erfüllt werden kann: Die lebensweltlichen Institutionen der Tradierung des christlichen Menschenbildes in seiner inhaltlichen Füllung müssen unterhalten und fortentwickelt werden, die Offenheit des christlichen Menschenbildes für das Verständnis und die Anerkennung anderer Menschenbilder muß deutlich werden, und es müssen die Bereitschaft und Fähigkeit vorhanden sein, sich auf die Aufgabe der fallbezogenen Verständigung zwischen den verschiedenen Menschenbildern einzulassen. Das wäre eine exemplarische Antwort auf die Grundfrage einer neuzeitlichen Sozialethik. Sie hätte auch heilsame selbstkritische Effekte im Blick auf das Christentum und seine kirchlich verfaßte Gestalt, würde aber auch befreiend auf die Gesamtöffentlichkeit ausstrahlen.

Der Autor lehrt Christliche Gesellschaftslehre an der Evang.-Theol. Fakultät Tübingen und ist Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, die den Theologenkongreß 26.-30. Sept. in Wien veranstaltet.

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