Einst Zufluchtsort, nun NEUE HEIMAT

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Ihr Leben hat sich durch den Jugoslawienkrieg radikal verändert. Heute sind sie in Österreich verwurzelt. Drei Menschen aus Bosnien im Porträt.

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Ihr Leben hat sich durch den Jugoslawienkrieg radikal verändert. Heute sind sie in Österreich verwurzelt. Drei Menschen aus Bosnien im Porträt.

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Ist mir das wirklich passiert?", fragt sich Nedad Memi´c manchmal, wenn er an die Kriegszeit in seiner Heimatstadt Sarajewo denkt. Sein Leben teilt er ein in die Zeit vor und nach dem Krieg. "Die Kriegsspuren sind nicht an der Oberfläche sichtbar, aber wenn man ein bisschen tiefer gräbt, sind die Erinnerungen und Traumata in der bosnischen Gesellschaft, in jeder Familie noch immer sehr präsent", weiß der heute 37-Jährige nur allzu gut.

Vor zwölf Jahren gelangte Memi´c durch ein Doktorats-Stipendium nach Wien. Zuvor studierte er in Sarajewo, wo er auch während der Belagerung von 1992 bis 1995 zur Schule ging. Nachdem die Stadt ab Mai 1992 hermetisch abgeriegelt war und es keine Familienmitglieder im Ausland gab, entschloss sich seine Familie, zusammenzubleiben. Seine Jugendjahre zwischen 15 und 18 erlebte er in der umzingelten Stadt. "Unser Bewegungsradius war sehr eingeschränkt, das Wasserholen war lebensgefährlich", erzählt er. "Es fehlte an Lebensmitteln, an Geld, an allem." Dennoch ging Memi´c fast täglich zur Schule. "Bei Bombardierungen sind wir zu Hunderten in den Keller gelaufen." Irgendwann habe man sich damit arrangiert, jeden Tag sterben zu können. Seine Familie hatte Glück, alle haben überlebt.

Dann kam die Zeit nach dem Krieg und damit die Hoffnung, dass sich das Leben verbessern werde. "Das war naiv", sagt Memi´c heute. "Viele sind weggegangen, andere zurückgekommen. Die Gesellschaft war in drei Ethnien zerfallen." Bis 2009 hoffte Memi´c, nach Bosnien zurückzukehren. Doch die Lethargie der bosnischen Gesellschaft wurde immer spürbarer. Die Rückkehrer haben es besonders schwer: "Die Bosnier denken sich, diese Leute hätten es leichter gehabt. In den Köpfen herrscht ein Nachkriegs-Frust", erklärt er. Der noch immer vorhandene Nationalismus in allen drei Volksgruppen verhindert politische Reformprozesse und einen grenzübergreifenden sozialen Wandel.

Enttäuschte Nachkriegs-Hoffnungen

Als Chefredakteur des zweisprachigen Monatsmagazins Kosmo ist Memi´c auch beruflich eng verwoben mit der bosnischen Community in Österreich. Das Gratismagazin versteht sich als Brücke zwischen den fast 700.000 in Österreich lebenden Menschen aus allen Teilen Ex-Jugoslawiens und der Mehrheitsgesellschaft. Heute leben über 200.000 Menschen mit bosnischem Migrationshintergrund in Österreich. Konkrete Zahlen über ihre ethnische Zugehörigkeit zu den Bosniaken (bosnische Muslime), bosnischen Kroaten (überwiegend katholisch) oder bosnischen Serben (hauptsächlich serbisch-orthodox) gibt es nicht. Allein im Zuge des Krieges in Ex-Jugoslawien sind rund 90.000 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina nach Österreich gekommen - Arbeiter genauso wie Studierende, Muslime wie auch Orthodoxe und Katholiken. Mehr als zwei Drittel von ihnen sind geblieben. Insgesamt gelten Bosnier in Österreich als kulturell, sozial und sprachlich sehr gut integriert.

Dass Bosnien politisch und gesellschaftlich stagniert, während die Nachbarstaaten am Weg in die EU voranschreiten, tut Memi´c leid. "Nur in Bosnien haben wir immer noch die Situation eines eingefrorenen Krieges", beklagt er. "Die Politiker nutzen die Traumata der Menschen, um Gruppen zu spalten und gegeneinander auszuspielen." Wie viele Intellektuelle aus Bosnien will sich Memi´c nicht vordergründig durch die Ethnie, sondern durch die Zugehörigkeit zum Staat Bosnien-Herzegowina definieren. Schließlich habe das multiethnische Miteinander jahrhundertelang funktioniert.

Flucht in ein besseres Leben

Im Gegensatz zu Nedad Memi´c konnte Alma Memi´c-Avdi´c (nicht miteinander verwandt) während des Krieges gerade noch rechtzeitig aus Sarajewo flüchten. Von ihrem nordbosnischen Heimatdorf Prijedor aus gelangte die damals 19-jährige Studentin im Frühling 1992 alleine nach Wien. Sie erwischte den letzten Bus, der aus dem Ort abfuhr. "Wir sind stundenlange Umwege durch bosnische Wälder gefahren, weil wir sonst nicht mehr hinaus gekommen wären", erinnert sie sich. Kurz später verübten dort serbische Truppen in so genannten "Arbeitslagern" Massaker an der bosniakischen und kroatischen Zivilbevölkerung. "Ich hatte Glück, weil ich früh genug weggegangen bin, viele andere nicht", sagt sie mit trauriger Stimme. Aus der Familie ihres Vaters sind 47 Menschen ermordet worden. In den Dörfern sind viele verschwunden.

Die junge Frau wurde von einer sehr hilfsbereiten Wiener Familie als Au-pair aufgenommen und immatrikulierte an der Uni Wien. "Ich habe damals nur ganz wenig Deutsch gesprochen, aber dank der Gastmutter schnell die Sprache gelernt. Sie haben mich als Familienmitglied aufgenommen." Trotzdem war es eine schlimme Zeit für sie. Ihre eigene Familie konnte sie nicht erreichen, in den Medien erfuhr sie von den Horrormeldungen aus Bosnien. Erst 13 Monate später konnten ihre Eltern dank der Bemühungen der Gastfamilie nach Österreich folgen. Ihr Vater musste sich bis dahin verstecken, weil er muslimischer Abstammung war. "Und das, obwohl wir keine bekennenden Muslime sind", sagt Memi´c-Avdi´c. In ihrer Kindheit wurden katholische, muslimische und orthodoxe Bräuche parallel gepflegt. Mit Religion kann sie nichts anfangen. "Der religiöse Fanatismus hat mir meine Jugend und meine Heimat gestohlen."

Heute leitet Memi´c-Avdi´c Sprachen-Projekte bei "update-Training", einer Weiterbildungs-Stelle für Menschen auf Arbeitssuche. Die Sprache ist für sie ein wichtiger Teil ihrer bosnischen Identität. Mit ihrem Sohn Ian spricht sie nur Bosnisch. Nach wie vor ist sie mit Leuten aus allen Teilen Ex-Jugoslawiens befreundet. Wenn Memi´c-Avdi´c nach Bosnien zu ihrer Familie fährt, sind es immer emotional anstrengende Besuche. Es macht sie traurig, zu sehen, wie wenig Chancen die meisten Eltern dort ihren Kindern bieten können. Längst hat sie in Österreich Wurzeln geschlagen. "Ich bin so dankbar für alles, was für mich am Anfang getan wurde", sagt sie sichtlich gerührt. Manchmal fragt sie sich, in welche Richtung sich ihr Leben ohne den Krieg entwickelt hätte. "Hätte ich all die Möglichkeiten gehabt, die ich heute habe?"

Auch Zijad Mandara betrachtet Österreich inzwischen als seine zweite Heimat. Er kam schon im Winter 1971 als Achtjähriger aus Bosnien nach Linz. Seine Familie ist durch die k.u.k Armee seit 120 Jahren mit Österreich verbunden. "Mein Vater Sulejman, gelernter Tischler, wollte Ende der Sechzigerjahre nur für ein paar Jahre als Gastarbeiter nach Österreich gehen, doch es ist anders gekommen", lacht Mandara, der heute Produkt-Technologe bei Siemens ist. Als Volksschüler fühlten er sich nie als Ausländer: "Die Lehrer und Mitschüler haben sich große Mühe gegeben, mich zu integrieren."

Bedrohliche Vorkriegs-Stimmung

Bis 1990 studierte Mandara dann in Mostar. Bald darauf spürte er, dass sich da etwas Schlimmes zusammenbraut. Also ging er zurück nach Österreich und gründete hier eine Familie. Die Hilfsbereitschaft der Österreicher, die auch in der Spendenaktion "Nachbar in Not" mündete, hat er in guter Erinnerung. "Ich konnte nicht fassen, dass mein schönes Jugoslawien durch den Nationalismus Serbiens und Kroatiens zerstört werden sollte", erinnert er sich. "Vor allem trage ich die Opfer von Srebrenica in meinem Herzen", sagt Mandara traurig.

Heute engagiert sich der bekennende Muslim im Kultur-und Wissenschaftsnetzwerk "Zentrum für zeitgemäße Initiativen" für den Dialog mit der Zivilgesellschaft und mit anderen Religionen. "Mir geht es um Zivilcourage, Toleranz und Akzeptanz der anderen und Andersgläubigen", meint Mandara. Er diskutiert gerne mit dem Gemeindepfarrer in seiner Mühlviertler Heimat über Gemeinsamkeiten und Auffassungsunterschiede. Die Beziehung zwischen dem Islam und der Mehrheitsgesellschaft hält er für durchaus geglückt: "Österreich sollte dieses Erfolgsmodell international verbreiten anstatt sich von den Negativschlagzeilen aus dem Ausland beeinflussen zu lassen."

Die bosnische Verfassung mit den beiden Entitäten "Föderation Bosnien und Herzegowina" sowie "Republika Srpska" betrachtet Mandara als die Hauptursache des politischen und gesellschaftlichen Stillstandes im Land. "Jeden Tag gießen nationalistische Politiker Öl ins Feuer - und niemand von der EU reagiert darauf", sagt er und schüttelt den Kopf. Von den Wahlen am 10. Oktober erwartet er sich nicht viel: "Ich bin überzeugt, dass es beim Alten bleiben wird - schade!"

Sprich günstig mit dem Balkan

Hrsg. von Vedran Dzihi´c, Edition Atelier 2011. 160 Seiten, kart., € 17,90

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