Erdoğans Vergessene Gefangene

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Recep Tayyip Erdoğan, der starke Mann am Bosporus, inszeniert sich zuletzt als Champion der Menschenrechte. Was sich da im saudischen Konsulat in Ankara abgespielt hat, sei ein Verbrechen gewesen. Offenbar verfügt er über handfeste Beweise, dass der Journalist Jamal Khashoggi dort ermordet und nach allen Regeln der forensischen Handfertigkeit zersägt worden ist. Wäre Khashoggi Türke und hätte sich in der Washington Post kritisch über Erdoğan und dessen autoritäre Politik geäußert, dann wäre er wahrscheinlich noch am Leben, würde aber vermutlich wegen Beleidigung des Staatsoberhauptes oder gar als Terrorismus-Sympathisant auf der Anklagebank sitzen.

Seit Verhängung des Ausnahmezustands am 20. Juli 2016, fünf Tage nach dem gescheiterten Putschversuch, sind in der Türkei 145 Journalistinnen und Journalisten festgenommen worden. Den meisten wirft die Anklage Unterstützung des Terrorismus vor. Sie sollen sich wahlweise der Propaganda für die bewaffnete kurdische PKK oder die islamistische Gülen-Bewegung schuldig gemacht haben. Im Zweifel für beide. Manche sind inzwischen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Andere, wie Deniz Yücel, der Korrespondent der konservativen deutschen Tageszeitung Die Welt, wurden als politische Geiseln eingesetzt. Seine Freilassung nach zehn Monaten Untersuchungshaft steht in auffälliger zeitlicher Nähe zur Genehmigung eines Rüstungsdeals durch Kanzlerin Angela Merkel. Yücel selbst ist davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang gibt.

Der Fall Zirngast

Der im September verhaftete Österreicher Max Zirngast, der in linken türkischen Publikationen regimekritische Texte publiziert hat, wartet noch immer, welche Verbrechen ihm konkret vorgeworfen werden. Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der republikanischen Tageszeitung Cumhuryet, würde in der Türkei hinter Gittern sitzen, wenn er sich nicht durch seine Flucht nach Deutschland der Haft entzogen hätte. Er wurde wegen Geheimnisverrats verurteilt, weil er ein Video veröffentlichte, das zeigt, wie der türkische Geheimdienst MIT Lkw mit Raketen ins kriegführende Syrien geschickt hat. Auch Enis Berberoğlu von der Oppositionspartei CHP, der Cumhuryet das Video zugespielt hatte, ist wegen "Weitergabe von Staatsgeheimnissen" zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Erdoğan hat sich nie geäußert, für wen die Waffen bestimmt waren. Seine Unterstützung für islamistische Rebellengruppen war aber offenkundig.

Ein gerade vom Wiener Institut für Internationalen Dialog und Kooperation (VIDC) herausgegebenes Buch geht den Veränderungen in der Türkei seit dem Putschversuch vom Juli 2016 nach. Die Historikerin und Journalistin Ayse Cavdar, die viel zum Thema Islamismus geforscht hat, kann derzeit nicht in die Türkei zurück. Sie lehrt in Frankfurt an der Oder und analysiert im Buch die Rivalität zwischen der Regierungspartei AKP und der islamistischen Bewegung des Fetullah Gülen. Ihr ist aufgefallen, dass in Ländern wie Afghanistan oder Algerien die islamistischen Bewegungen antihegemonial ausgerichtet sind, sich also gegen die jeweilige Staatsmacht richten. In der Türkei sei das anders: "Da geht es um ein imperiales Projekt." Eine Zeitlang hätten Erdoğan und Gülen Hand in Hand gearbeitet, seien aber zu Konkurrenten geworden, als der Politiker den Prediger und dessen qualifiziertes Personal nicht mehr brauchte.

Die Gülenisten, so schreibt Cavdar, "steuerten zu dieser Partnerschaft ihre Netzwerke an gebildeten und global vernetzten Personen bei". Mit der Wahl von Abdullah Gül zum Staatspräsidenten im Jahre 2007 sei der gemeinsame Feind, nämlich der säkulare Kemalismus, den vor allem die Armee repräsentierte, besiegt worden. Gülen sei es gelungen, seine Leute auch in die Armee einzuschleusen. Die hätten dann den Putschversuch unternommen.

Bis 2009, als das Zerwürfnis zwischen Erdoğan und Gülen manifest wurde, hätte unter religiösen Familien Solidarität geherrscht, so Cavdar. Jetzt hätten Religiöse voreinander Angst: "Muslime vertrauen einander nicht mehr", weil die AKP ständig Feinde produziere. Den Islamisten habe Erdoğan "das Gift des Nationalismus eingeimpft", sagt Mithat Sancar, Abgeordneter der kurdischen HDP und Vizepräsident des türkischen Parlaments. Der Professor für öffentliches Recht, der erst vor wenigen Jahren in die Politik ging, sieht in der Allianz zwischen der islamistischen AKP und der nationalistischen MHP ein Bündnis, das auch wieder zerbrechen kann.

Wenige Illusionen über die Entwicklung in der Türkei macht sich Selmin C¸alis¸kan, die türkischstämmige ehemalige Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland. Sie sieht Präsident Erdoğan am Gipfel seiner Macht: "Ich denke, dass die Räume noch enger werden. Seine erste Amtshandlung war, 18.000 Menschen zu entlassen. Er hat nach seiner Wiederwahl drei Zeitungen geschlossen und seinen Schwiegersohn zum Finanzminister gekürt." Nach C¸alis¸kans Einschätzung müsse man sich auf weitere Repressionen gefasst machen: "Er muss durch Produktion von Krisen den Amtserhalt sichern und ein Bild vom starken Mann aufbauen. Was die Menschenrechtsaktivistin besonders beunruhigt, sind die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit der Politik der letzten Jahre einhergehen. Sie berichtete im Juli bei der Sommerakademie des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) auf der Burg Schlaining im Burgenland. Dort drehte sich alles um das Thema shrinking spaces, also die weltweit schrumpfenden Freiräume für zivilgesellschaftliches Engagement. In der Türkei werden die Räume nicht nur für die organisierte Zivilgesellschaft enger, sondern für alle, die ein anderes Gesellschaftsmodell leben wollen. "Die Übergriffe in der Öffentlichkeit haben zugenommen. Wenn ich mit kurzen Ärmeln in ein Sammeltaxi steige, kann es sein, dass mich jemand angreift, ohrfeigt, und ehrlose Schlampe nennt", so Selmin C¸alis¸kan zur FURCHE. Noch vor zehn Jahren hätte ein anderer Fahrgast eingegriffen, heute nicht mehr. Trotzdem sei vor allem die Frauenbewegung sehr aktiv und habe zuletzt ein Gesetz verhindert, das Vergewaltigern, die ihr Opfer heiraten, Straffreiheit garantiert hätte: "Das Opfer wäre doppelt bestraft worden."

Gerechtigkeit statt Gleichheit

Die traditionell kämpferische Frauenbewegung hat den Ausnahmezustand nur geschwächt überlebt. Vor allem in kurdischen Gebieten sind viele Vereine verboten, Anti-Gewalt-Stellen geschlossen worden. In dieses Vakuum dringen konservative Frauen-NGOs ein, die zum Teil sogar von Verwandten Erdoğans gegründet wurden, wie die Feministinnen Ayse Dursun und Nehir Kovar in einem Beitrag schreiben. Sie engagieren sich zwar auch gegen Gewalt in der Familie, anders als die feministischen Organisationen reklamieren sie aber nicht Gleichheit der Geschlechter, sondern sprechen von "Gerechtigkeit". Im Islam ist, wie es auch Erdoğan predigt, die Frau dem Manne "anvertraut". Diese Vereine werden von der Regierung gefördert und danken es ihr, indem sie die Militäroperationen an der Schnittstelle von Nationalismus und Militarismus legitimieren. "Das führt dazu, dass Feministinnen und kurdische Frauen, die ihre Anforderung für einen dauerhaften Frieden artikulieren, vereinsamen und sogar kriminalisiert werden." Als die Armee im vergangenen März ihren Angriffskrieg gegen die kurdische Stadt Afrin in Syrien führte, veranstaltete die NGO KADEM ein Gebetsprogramm für die Soldaten, "die für das Vaterland ihr Leben riskieren".

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