Erlösende Literatur

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Vom Mehr-Wert der Gleichnisse: Ein Plädoyer, die Bibel literarisch zu lesen.

Poetische Texte vermögen für ihre Leser zu heiligen Texten zu werden. Jenseits romantischer Genieästhetik und metaphysischer Überhöhungen von Kunst versteht der Literaturwissenschaftler Harold Bloom dies in einem überaus profanen Sinn. Für Bloom werden Leser durch Literatur lebensfitter, flexibler gegenüber möglichen Veränderungen, autonomer. Richard Rorty spricht gar von erlösender Kraft: Die Lektüre poetischer Texte befreit aus der eigenen Selbstbezogenheit. Wer in die erfundenen Welten eintaucht, bekommt eine Auszeit vom Alltag, Distanz zu sich selbst und kann seine Wahrnehmung sensibilisieren. Paul RicSur schließlich hat poetische Texte - wieder in einem allgemeinen, nicht-religiösen Sinn - offenbarend genannt. Offenbarung ist für ihn das, was sich während des Lektürevorgangs, durch die Phantasie, in den Textwelten zeigt. Derart profan-heilige Texte sind das Gegenteil von harmlos. Die "nur" erfundenen Texte können die Weltsicht ihrer Leser in Frage stellen. Sie schicken einen nicht unverändert zurück.

Die Bibel spricht in Poesie

Deshalb ist es nicht zwangsläufig eine Defiziterklärung, wenn man die heiligen Texte der Bibel als "poetisch" bezeichnet. In aller Regel ist dies natürlich ein Ausdruck von Kritik: Poetische Texte sind "nur" erfunden und bewegen sich abseits von dem, was wir für gewöhnlich unter Wahrheit und Wirklichkeit verstehen. Möglicherweise müsste man aber ganz anders formulieren: Als "nur" poetische Texte gelesen zu werden, könnte ein Risiko sein, dass diese Texte eingehen müssen. Weil sich nur auf poetischem Weg eine Form von Wahrheit transportieren lässt, um die es den biblischen Texten geht.

Mit der Frage nach Dichtung und Wahrheit stößt man im Grunde in das Herz biblischer Sprache, denn es verweist direkt auf den Sprecher des Neuen Testaments schlechthin. Bekanntlich redete Jesus in erfundenen Geschichten, den Gleichnissen vom Reich Gottes, und wurde so zum legitimierenden Vorreiter für spätere christliche wie weltliche Dichtung. Die zu stellende Frage klingt naiv, führt aber mitten ins Thema: Warum hat Jesus ausgerechnet in Gleichnissen, also in erfundenen Geschichten vom Reich Gottes gesprochen? Warum entwirft er Szenarien mit Weinbergen, Hausherren und Tagelöhnern oder arbeitet mit bewegten Bildern von Sauerteigen und Samenkörnern, statt "wahre" Sätze von sich zu geben?

Die Gleichnisse als Spiel

Ein Blick auf die Charakteristika der Gleichnisse kann Aufschluss geben. Da wäre zunächst der Spielcharakter. Die Gleichnisse erwecken nirgends den Eindruck, tatsächlich Geschehenes zu bezeichnen. Namens- und Ortsangaben fehlen. Die Szenarien wirken konstruiert, sind extrem auf das Wesentliche reduziert. Aristoteles, der Altvater der Literaturtheorie, spricht vom Kriterium der Notwendigkeit: Was für den Fortlauf einer Story nicht notwendig ist, gehört auch nicht dazu. Hinzu tritt bei Aristoteles das Kriterium der Wahrscheinlichkeit. Eine Geschichte muss nachvollziehbar sein, darf keine unlogischen Sprünge haben, soll mit der Welt ihrer Leser vermittelbar sein. Wenn Tatsächliches in erfundenen Geschichten begegnet, dann weil der Dichter Wahrscheinlichkeit erzeugen will. Damit wäre bereits das zweite Charakteristikum genannt: Die Erzählung selektiert aus den Systemen, der Sprache, den Normen des Alltags. Dass ein Sämann zur Tat schreitet, ist ein dem Publikum ebenso wohlbekannter Vorgang wie, dass Tagelöhner für die Arbeit im Weinberg angeworben werden. Gleichzeitig, und dies ist ein drittes Charakteristikum, entsteht im Text ein Spielraum der Umformung, der Neukombination. Wohl entsprach es der Gewohnheit von Jesu Hörerkreis, dass am Morgen Tagelöhner eingestellt werden. Dass der Weinbergbesitzer in regelmäßigem Drei-Stunden-Takt weitere Arbeiter anwirbt, mutet dagegen eher seltsam an. Dass er dies noch eine Stunde vor Arbeitsschluss tut, scheint schon schier sinnlos. Schließlich treibt Jesus den Weg vom Wahrscheinlichen zum Unwahrscheinlichen bis zum Empörenden, wenn am Abend der Auszahlung alle den gleichen Lohn erhalten - den mit den Ganztagsarbeitern vereinbarten einen Denar.

Dieser Wechsel aus Spielcharakter, Selektion und Neukombination ruft gezielt Wirkungen beim Publikum hervor: Zunächst setzt die Erzählung die Phantasie, das innere Auge, die Vorstellungskraft in Gang und zieht ihr Publikum so quasi in den Text hinein. Die Folie des Spiels bleibt aber die Welt des Alltags, und so kommt es im Lektürevorgang zu dem, was RicSur den Kampf zwischen der Welt des Textes und der Welt seiner Leser nennt. Das Gleichnis greift die im Alltag selbstverständliche, handlungsleitende Norm von Lohn und Entsprechung auf und macht sie zum Thema. Indem sie sie durchbricht, gerät die Welt des Textes in konkurrierenden Gegensatz zur Welt des Alltags. Der Empörung der Arbeiter im Text dürfte ziemlich exakt die Empörung des Publikums entsprechen.

Norm auf dem Prüfstand

Für christlich geübte Ohren ist das Anstößige des Gleichnisses wohl geschwunden, aber versuchshalber kann man sich folgendes Szenario vorstellen: Die Halbtagskraft im Büro nebenan verdient bei gleicher Tätigkeit genauso viel wie man selber, geht aber jeden Tag vier Stunden früher. Im täglichen Leben ist das ein unmöglicher, ein nicht tolerierbarer Vorgang.

Demgegenüber nutzt die Fiktionserzählung ihren Spielcharakter, um die gängige Norm auf den Prüfstand zu stellen. Subtil richtet der Weinbergbesitzer rhetorische Fragen an die empörten Ganztagsarbeiter (und an die wohl ebenfalls empörten Zuhörer), die sie kaum anders als mit Zustimmung beantworten können: Keineswegs können sie einklagen, dass sie mehr als das Vereinbarte bekommen. Und wer könnte schon etwas gegen Güte haben? Wie einem aufgeblähten Ballon wird der Empörung die Luft herausgelassen.

Nicht auf "Moral" getrimmt

Das Gleichnis, wie es Jesus vermutlich erzählt hat, endet hier. Das Ende der Erzählung schickt die Zuhörer zurück in den Alltag. Sie haben etwas erlebt, was durch eine erfundene Erzählung hervorgerufen wurde, als Erlebnis gleichwohl real war. Aber warum hat Jesus das Gleichnis erzählt? Wie ist die "Moral von der Geschicht" und hätte er nicht einfacher eine Regel aufstellen können? Etwa: "Bezahlt den Halbtagskräften soviel wie den Ganztagskräften!?" Oder: "Gott ist es egal, was du tust, du kommst in jedem Fall in den Himmel!?" Oder die Version des Evangelisten Matthäus: "So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten!?"

Auf diese Generalisierungen ist die Erzählung nicht zu bringen. Sie ist einerseits viel konkreter, andererseits viel allgemeiner als alle diese Anwendungen. Zudem vermeidet sie in ihrer Vieldeutigkeit eines: Gott oder seinen Willen für diese Welt auf den Begriff zu bringen. Jesus schlägt in der Geschichte keine fixierte Weltordnung vor, die der Mensch einfach in die Tat umsetzen könnte. Er gibt auch keinen Rezeptkatalog, wie man für sich selbst am besten Heilssicherung betreibt. Das Gleichnis, und das ist wesentlich, ist zunächst ein Appell an die Phantasie. Es veranlasst, im Lichte der Erzählung von den Arbeitern im Weinberg nach anderen, ähnlichen Situationen zu suchen und in ihnen kreativ zu werden. Damit nimmt der Text, der sich vom Alltag entfernt hat, den Weg zum Alltag zurück. Er veranlasst, die persönliche oder gesellschaftliche Norm von Lohn und Entsprechung nicht absolut zu setzen, sondern zu öffnen für gütiges Handeln, wie auch immer das dann konkret aussehen mag. Im Erzählen und Anwenden der Geschichte ereignet sich etwas, das man christlich als "Umkehr" bezeichnen könnte.

Letztlich tun Gleichnisse damit das, was Rorty für poetische Texte überhaupt festhält - sie machen ihre Leser flexibler, sensibler, verändern Wahrnehmung und schaffen Identität. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass alle Texte der Bibel poetisch sind: Sie haben insofern einen Hang zum Poetischen, als es ihnen kaum je darum geht, Gegebenheiten im heutigen historischen Sinn zu beschreiben, sondern gemachte Erfahrungen so darzustellen, dass die Hörer/Leser ihren Ort in der Welt finden können.

Welt in neuem Licht

Mit RicSur gesprochen geht es ihnen um Wahrheit als "Manifestations-Wahrheit, im Sinne des Sein-Lassens dessen, was sich zeigt. Was sich zeigt, das ist jedesmal das Angebot einer Welt, einer Welt, die so beschaffen ist, dass ich meine eigensten Möglichkeiten in sie hinein entwerfen kann." Die biblischen Texte bringen Menschen dazu, ihre Welt im Licht dieser Texte zu lesen, Gegebenes zu überschreiten und sich auf neue Wege zu begeben. Dieser Bewegung gibt die biblische Denkwelt ein Ziel - den Gott, den die biblischen Texte vielfach und in poetischer Weise nennen.

Die Autorin ist Theologin und Germanistin, derzeit am Institut für Dogmatische Theologie der Universität Wien. Anfang 2006 erscheint im Pustet-Verlag ihr Buch "In Wahrheit erfunden. Dichtung als Ort theologischer

Erkenntnis".

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