Erscheinung oder Vision?

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Vor 100 Jahren begannen die Erscheinungen von Fatima. Papst Franziskus reist nach Portugal, um zwei der drei seherkinder heiligzusprechen.

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Vor 100 Jahren begannen die Erscheinungen von Fatima. Papst Franziskus reist nach Portugal, um zwei der drei seherkinder heiligzusprechen.

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Am 13. Mai 1917, in einer Wiesenmulde namens Cova da Iria bei Fatima, erschien die Muttergottes den drei Hirtenkindern zum ersten Mal. Einmal pro Monat sahen daraufhin die zehnjährige Lucia dos Santos, ihr Cousin Francisco Marto (8) und dessen Schwester Jacinta (7) die Madonna, bis ein von vielen bezeugtes "Sonnenwunder" in der Cova da Iria die Erscheinungen zum Abschluss brachte. Francisco und Jacinta starben noch im Kindesalter. Sie werden am hundertsten Jahrestag der ersten Erscheinung in Fatima von Papst Franziskus heiliggesprochen. Lucia, die später Ordensschwester wurde und ein hohes Alter erreichte, war als Älteste bei den Erscheinungen tonangebend. Nur sie konnte mit der Muttergottes sprechen; Francisco konnte diese nicht einmal hören. Befragungen und Verhöre zur Zeit des Geschehens ließen die Kinder als glaubwürdig erscheinen. Mehr als zwei Jahrzehnte danach aber brachte Schwester Lucia erstmals eine Botschaft der Muttergottes vom 13. Juli 1917 zu Papier: die berühmten drei Geheimnisse von Fatima.

Die Erzählungen kommen naturgemäß kindlich daher. Ganz im Stil der Zeit fordert die Muttergottes die Kinder auf, eifrig den Rosenkranz zu beten und mit einem opferbereiten Leben Gott, der wegen der vielen Sünden der Menschen "beleidigt" sei, zu trösten. Eine Höllenvision lehrt vor allem die kleine Jacinta das Grauen.

Ein Segen fürs diktatorische Salazar-Regime

Aber Fatima hat auch eine eminent politische Dimension. Das zweite Geheimnis stellt sowohl den Frieden als auch die "Bestrafung der Welt für ihre Missetaten" in Aussicht. Russland, heißt es dort, solle "dem unbefleckten Herzen Marias geweiht werden", andernfalls werde es "seine Irrlehren über die Welt verbreiten, Kriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören".

Wohlgemerkt: Am 13. Juli 1917 war Russland noch nicht von den Bolschewiken beherrscht. Die Kinder hatten von "Russland" - geschweige denn vom atheistischen Kommunismus -keine Vorstellung. Sie hätten gedacht, "Russia" seine eine Frau aus dem Nachbardorf, berichtete Schwester Lucia später. Dem ab 1932 herrschenden Langzeit-Diktator António Salazar aber passte diese Russland-kritische Dimension hervorragend ins Konzept. Wie andere europäische Diktatoren war auch er ein glühender Antikommunist.

Fatima wurde zum nationalen Heiligtum, in dem der Katholizismus und die vom Faschismus inspirierte Ideologie des "Estado Novo" zueinander fanden. Und es wurde zum verhassten Staatssymbol für Oppositionelle, die sich massiven Repressionen ausgesetzt sahen. Dem Diktator warfen sie vor, er verwende drei "F", um das Volk ruhig zu halten: Fado, Fatima und Fußball.

Hat Salazar Fatima stark gemacht? Pedro Valinho, Theologe am Heiligtum von Fatima, sieht die Sache anders: Salazar habe die Stärke Fatimas, seinen hohen Stellenwert bei der Bevölkerung für Propagandazwecke genutzt - nicht umgekehrt.

Wenn sich die Geschichte so ereignet hat, wie sie erzählt wird, hat die Muttergottes die "Irrlehren Russlands" angeprangert, ohne Faschismus oder Nationalsozialismus auch nur mit einem Wort zu erwähnen. António Marujo, einer der bekanntesten katholischen Journalisten Portugals, findet es höchst merkwürdig, dass die Muttergottes gekommen sein soll, "um vor dem Kommunismus zu warnen, aber nicht vor der Schoa". Dass es jetzt - anders als in Zeiten der Diktatur - auch unter Katholiken in Portugal möglich ist, offen über Fatima zu diskutieren, empfindet Marujo sehr positiv. Er selbst nimmt eine differenzierte Position ein: "Die Kinder sind glaubwürdig in dem, was sie erfahren haben. Aber die Frage ist: Welche Erfahrung ist das?"

Marujo, Herausgeber eines neuen Buches über Fatima ("A Senhora de Maio") empfiehlt - wie kürzlich auch der Lissaboner Weihbischof Carlos Azevedo - nicht von "Erscheinungen", sondern von "Visionen" zu sprechen. "Die Muttergottes kommt nicht vom Himmel, um auf einem Baum zu erscheinen", sagt er. Die "Marienerscheinungen" haben sich so gesehen nicht in der äußeren, physikalischen Wirklichkeit, sondern in der inneren Wahrnehmung der Seherkinder abgespielt. Das bedeutet nicht, das Ereignis selbst zu leugnen. Kardinal Joseph Ratzinger, damals Präfekt der Glaubenskongregation, schrieb in seinem Kommentar zum dritten Geheimnis: "Die innere Schau ist nicht Fantasie, sondern wirkliche und eigentliche Weise der Wahrnehmung. Aber sie bringt auch Einschränkungen mit sich." Das Subjekt sei "an der Bildwerdung dessen, was sich zeigt, wesentlich mitbeteiligt".

Damit wird die Frage nach den Quellen der Botschaft legitim. António Maruja weist darauf hin, dass etwa die Höllenvision des ersten Geheimnisses beinahe Wort für Wort aus einer damals kursierenden Schrift für Priester stamme. Besonders drängend wird die Frage nach Quellen und Einflüssen angesichts folgender Begebenheit: Nach 1945 machte sich Diktator Salazar Gedanken über die Zukunft. Da erhielt er eine -bis heute vorhandene - Postkarte von seinem Freund Kardinal Manuel Cerejeira, dem Erzbischof von Lissabon. Die Muttergottes sei Schwester Lucia erneut erschienen, hieß es da, und habe ihr mitgeteilt, dass er, Salazar, der richtige Mann für Portugal sei.

Viele hatten erwartet, dass Fatima nach der Nelkenrevolution von 1974 und dem Übergang zur Demokratie in der Bedeutungslosigkeit verschwinden würde. Doch es kam ganz anders. Das Heiligtum erfreut sich nach wie vor enormer nationaler wie internationaler Anziehungskraft. Allein im Vorjahr wurden 5,5 Millionen Menschen gezählt, die an einem der religiösen Riten teilnahmen.

Keine Reduktion auf Antikommunismus

Menschen kommen mit ihren Sorgen, mit ihren Krankheiten und Zukunftsängsten. Sie zünden Kerzen an oder werfen Körperteile aus Wachs ins Feuer, zum Zeichen der Läuterung und Heilung. Sie beten den Rosenkranz, feiern Gottesdienst, besuchen die Gräber der Seherkinder, verweilen bei der Madonna, ziehen singend hinter ihr her, rutschen auf Knien zur Gnadenkapelle. Was wäre in dem hypothetischen Fall, dass sich Papst und Bischof von Fatima abwenden würden? "Ich glaube, die Menschen würden trotzdem nach Fatima kommen", sagt António Marujo. "Denn die Menschen suchen die Berührung mit dem Heiligen."

Die politischen und ideologischen Debatten sind weitgehend verstummt. "Russland" wird in Fatima heute -ähnlich wie das Babylon der Bibel -als Metapher interpretiert. "Bekehrung Russlands", so Pedro Valinho, bedeute "die Bekehrung von allem, was sich gegen Gott und den Menschen richtet". Der Rektor des Heiligtums, Carlos Cabecinhas, beklagt die damalige politische Instrumentalisierung der Botschaft von Fatima, ihre Reduktion auf einen Kampf gegen den Kommunismus. Denn damit gehe die Aktualität der Botschaft verloren. Bekehrung, das gehe alle an. Ob in Russland, in Österreich oder in Portugal: "Wir leben in einer Welt, die Gott zwar nicht bekämpft, aber versucht, ihn an den Rand zu drängen."

Francisco und Jacinta, die neuen Heiligen, waren Akteure in einem Ereignis, das unter vielen Schichten an Deutung und Interpretation verborgen liegt. Was immer es war, das sie erlebt haben: Auch Skeptiker können mit ihnen feiern, was für sie in ihrem kurzen Leben das Größte war.

| Der Autor ist Religionsjournalist und Dokumentarfilmer beim ORF-Fernsehen |

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