"Es gibt auch kreative Seiten der Gewalt"

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Der Philosoph Michael Staudigl will der Debatte über die Gewalt einen breiteren Rahmen geben. Eine menschliche Gesellschaft ohne Gewalt hält er für eine Illusion.

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Der Philosoph Michael Staudigl will der Debatte über die Gewalt einen breiteren Rahmen geben. Eine menschliche Gesellschaft ohne Gewalt hält er für eine Illusion.

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Michael Staudigl forscht seit Jahren zum Thema Gewalt. Er findet, dass der Diskurs das Thema oft nur an der Oberfläche streift und Eigenschaften außer Acht lässt, die auch gesellschaftsbildend sind.

DIE FURCHE: Gewalt ist ein negativ besetzter Begriff. Sie hingegen sehen das viel differenzierter. Gewalt, so ihr Ansatz, kann auch produktiv sein?

Michael Staudigl: Unser Begriff von Gewalt ist insofern einseitig, als er nur ihre zerstörerischen Seiten fokussiert. Wir sollten aber auch ihre kreativen und produktiven Seiten beachten.

DIE FURCHE: Martin Heidegger hat so eine kreative Gewalt dem Künstler zugeordnet, der die Dinge in seinem Schaffensprozess auseinandernimmt und ihnen neue Form gibt. Meinen Sie das?

Staudigl: Ich würde das erweitern. Es gibt eine regelrechte Poietik der Gewalt, die also auch etwas schaffen kann. Sie zerstört und verletzt nicht nur -was sie immer tut -, sie kann auch eine "Kultur der Gewalt" oder neue Sinnwelten kreieren. Man muss, um das zu sehen, unsere moralisierenden Vorannahmen einklammern, um überhaupt einmal beschreiben zu können, wie Gewalt wirkt, ohne sie vorab als das schlechthin Illegitime, als per se böse anzusetzen.

DIE FURCHE: Demnach wäre die Gewalt ein neutrales Instrument?

Staudigl: Ganz so einfach würde ich das nicht sehen.

DIE FURCHE: Aber wäre etwa die instrumentelle Staatsgewalt nicht eine positive Anwendung der Gewalt, die individuelle Gewalt eine schlechte?

Staudigl: Man kann eines nicht ohne das andere denken. Im Zeichen staatlichen Gewaltmonopols erscheint Gewalt als Machteffekt. Obzwar verletzend, ist sie nicht mehr als Gewalt präsent. Es handelt sich um verbrämte Gewalt, die dort greifbar wird, wo beispielsweise das Recht auf seine "rechtserhaltende Gewalt" zurückgreift. Dadurch, dass sich Ordnung erhält, (re)produziert sie auch das Außerordentliche. Man wird in dem Sinne die Gewalt nie los. Ja, Ordnung benötigt sie, da die Tätigkeit des Ordnens ihr Anderes braucht.

DIE FURCHE: Was wäre ein Beispiel für produktive Gewalt?

Staudigl: Gewalt schafft immer auch etwas, selbst wenn sie verletzt, was sie immer tut, vor allem neue Sinnhorizonte. Michelet, einer der Geschichtsschreiber der Französischen Revolution, hat das treffend formuliert, als er sagte: Nach der Revolution haben die Menschen Frankreich anders wahrgenommen, so, wie noch niemals zuvor. Aber wichtig ist auch: Gewalt ist niemals ein einseitiges Geschehen, sondern relational. Sobald sie auch aus den Perspektiven der Opfer und Dritter gesehen wird, treten andere Fragen ins Zentrum. Etwa, ob etwas als Gewalt verstanden wird oder nicht.

Jemand behauptet zum Beispiel, die sozialen Verhältnisse seien gewaltsam und man dürfe sich folglich dagegen wehren. Die verweigerte Anerkennung erfahrener Gewalt rechtfertigt so Gegen-Gewalt. Spannend ist also: Wer legt fest, was als Gewalt gilt und was nicht -und inwiefern eröffnet gerade Gewalt erst Möglichkeiten, in den Kampf um die Deutungshoheit über Gewalt einzutreten?

DIE FURCHE: Landen wir da letztlich bei der Debatte über verbale Gewalt und Political Correctness?

Staudigl: Ja, da könnte man andocken.

DIE FURCHE: Besteht dann nicht die ganze Erziehung aus Akten der Gewalt - da man die Freiheit des Einzelnen einschränkt und Verbote dekretiert?

Staudigl: Sie ist vor allem ein Umgang mit ihrer Ambivalenz und der Möglichkeit der Überschreitung von Ordnung in ihrem Namen. Gesellschaften haben ja beispielsweise auch Ohrfeigen lange als Ausdruck bzw. Symbol elterlicher Liebe codiert und nicht als Gewalt. Das sind entscheidende Dinge.

DIE FURCHE: Nun gibt es nicht nur "a-soziale", sondern auch gruppenstiftende Gewalt. Etwa in Studentenverbindungen, fundamentalistischen Gemeinschaften etc. Da erleiden, ja akzeptieren Menschen Gewalt als Teil von Initiationsriten. Was hat es damit auf sich?

Staudigl: Das ist ein spannender Punkt: Wie soll man das erklären, ist es das Irrationale per se? Es scheint jedenfalls nicht vereinbar mit den Normen, in deren Sicherheit wir uns wiegen. Da genau hinzusehen, bedeutet vor allem, sich der Selbstgerechtigkeit der eigenen Vernunft zu entziehen, die Gewalt nur als das Andere der Gemeinschaft denken kann.

DIE FURCHE: Glauben Sie, dass die Menschheit ursprünglich ohne Gewalt auskam?

Staudigl: Ich halte das für eine gefährliche Illusion. Der Mensch schafft seine Menschlichkeit auf der Basis von binären Konzeptionen wie Natur/Kultur, Lebewesen/Logos, Böse/Gut. Gewalt ist immer schon da, weil darin heteronormative, wertende Grenzziehungen wirken. Was an der Gewalt "widernatürlich" erscheint, ist menschengemacht -und wie wir wissen, kann gerade "kultivierte" Gewalt die schlimmste sein. Gewalt ist also Teil dieses Verhältnisses, das wir sind, sein ambivalenter Grund -somit aber auch die Unruhe, die alles erst entstehen lässt. Nehmen wir die aktuelle Debatte um "Gastlichkeit". Da ist diese Ambivalenz im Begriff vorhanden. Hostis bedeutet sowohl Gast als auch Feind. Doch erst in der Antwort auf seinen Anspruch artikuliert sich, wie wir mit unserer eigenen Ambivalenz umgehen, ob wir sie beispielsweise auf andere projizieren oder anerkennen. Gerade der Umgang mit dieser Ambivalenz kann auch sehr positiv sein, denn ohne diese Verhandlung wäre eine Gemeinschaft tot.

Michael Staudigl

Der Dozent für Philosophie an der Universität Wien forscht zum Thema Gewalt und aktuell über die Wiederkehr der Religion und ihrer Bedeutung in der modernen Gesellschaft.

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