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Es gibt die Pflicht zur Nothilfe

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Sind nicht die Werte, die auf dem Spiel stehen, bei der Frage „Gewaltlosigkeit oder Gewaltanwendung” mitzubedenken?

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Sind nicht die Werte, die auf dem Spiel stehen, bei der Frage „Gewaltlosigkeit oder Gewaltanwendung” mitzubedenken?

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Gewaltlosigkeit - eine Illusion? Nein, Gewaltlosigkeit ist eine Selbst-yerständlichkeit im Umgang unter zivilisierten Menschen, ein Gebot der Stunde in unserer vor Gewalt strotzenden Zeit.

Was bedeutet für mich Gewalt? Sie wird immer dann angewandt, wenn dadurch jemand anderer ungerechtfertigt daran gehindert wird, das zu tun, was er zu tun beabsichtigt. Oder umgekehrt gesagt: Gewalt wird angewandt, wenn jemand versucht seinen eigenen Willen ohne Legitimation gegen den Willen eines anderen durchzusetzen. Gewalt darf dabei nicht, wie uns so mancher einäugiger Friedensapostel einzureden versucht, vereinfacht mit dem Einsatz von Waffen gleichgesetzt werden. Gewalt kann auch physisch und psychisch (auch Worte können bekanntlich töten) zum Tragen kommen. Nicht der Waffenträger an sich ist schon Gewalttäter, sonst wären an die 20 Prozent aller Österreicher potentiell gewalttätig (geht man von der Anzahl der registrierten Handfeuerwaffen in unserem Land aus). Gewalttätig kann nur die Absicht sein, die hinter dem Waffeneinsatz steht.

Die Frage der Gewaltlosigkeit, und - in direktem Zusammenhang damit - der Anwendung von Gewalt stellt sich mehrdimensional dar:

Zunächst geht es darum, daß jeder für sich in der direkten Konfrontation grundsätzlich auf Gewaltanwendung verzichtet, um sich gegen jemanden durchzusetzen.

Doch wir kennen alle den Spruch: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.” Die zweite Dimension bezieht sich daher darauf, daß man als Individuum einer Person gegenüber steht, die nicht von so hehrem Gedankengang beseelt, die schlichtweg bereit und willens ist, dem eigenen Egoismus zum Durchbruch zu verhelfen.

Das fängt bei kleinen Dingen an. Welcher Autofahrer hat diese Situation nicht schon erlebt: Nach langem Umkreisen eines Gebäudekomplexes finden Sie endlich einen Parkplatz. Während Sie versuchen, brav, wie Sie es gelernt haben, nach rückwärts einzuparken, ohne dabei den fließenden Verkehr zu behindern, nützt ein anderer Autofahrer rücksichtslos die Situation und zwängt sich hinter Ihnen in „Ihren” Parkplatz. Was werden Sie tun? Aussteigen, dem anderen für seine Freundlichkeit danken, ihn anbrüllen oder gar (da Sie sich ja im Recht fühlen) tätlich angreifen (es sollen schon Autofahrer in so einer Situation zur Waffe gegriffen haben)? In dieser Situation gilt es doch abzuwägen, festzustellen, was Ihnen diese Angelegenheit wert ist. Nun, in der geschilderten Situation werden Sie die Ruhe bewahren, sich innerlich zwar ärgern, aber als Vernünftigerer nachgeben, Gewalt-losigkeit vorleben und nach einem neuen Platz Ausschau halten.

Was aber, wenn die Frage nach dem Wert anders zu beantworten ist? Muß ich mir alles gefallen lassen? Muß ich zulassen, daß mir ein Taschendieb die Geldbörse aus der Hosentasche zieht? Ja, ist Gewaltlosig-keit um jeden Preis wünschenswert, ja zielführend? Hier gilt es abzuwägen. Was bewirkt meine Gewaltlo-sigkeit? Daß etwa der Dieb reumütig die Geldbörse zurückgibt - oder wird es ihn nicht vielleicht in der Zukunft nach dem Erfolg noch dreister machen? Mir tun vielleicht die paar hundert Schilling nicht weh, was aber, wenn das nächste Opfer ein Ausgleichsrentner ist, der in seinem Geldbörsel die ganze Rente hat, von der er einen Monat leben muß?

Mache ich mich durch meine Ge-waltlosigkeit nicht vielmehr mitschuldig? Für mich lautet die Antwort schlichtweg: ja! Ich werde daher den Dieb zunächst irgendwo am Ärmel schnappen (und damit - gerechtfertigt - Gewalt anwenden) und versuchen ihm sein Unrecht klarzumachen, in der Hoffnung, daß er mir die Geldbörse zurückgibt. Oder aber, da er sich losreißen will, ihn fester halten, um ihn der dazu legitimierten Staatsgewalt zu übergeben. Ich wende dabei zwar selbst Gewalt an, auch der Staat tut dies durch den Polizisten, der den Dieb festnimmt, und den Richter, der ihn verurteilt. Aber ich (und mit mir die

staatlichen Organe) tun dies, um neuerliche und unter Umständen größere Gewalt (etwa neuerliche Beutezüge) zu verhindern.

Halten wir fest: Weitere Gewaltlosigkeit oder Gewaltanwendung ist abhängig von der Frage der Werte, um die es dabei geht, und der möglichen Folgen, etwa Eskalation von Gewalt auf der einen Seite infolge der Gewaltlosigkeit auf der anderen.

Bisher ging es um das Verhalten zwischen zwei Menschen. Eine neue Dimension erhält die Diskussion, wenn es um mehrere Betroffene geht. Ich, der Friedliebende, werde Zeuge, wie ein Dieb einer alten Frau die Handtasche stiehlt, ein Erwachsener ein Kind verprügelt, Jugendliche einen völlig harmlosen Ausländer bedrängen. Was dann? Gewaltlos wegschauen? Oder kommt hier nicht meine Pflicht zur Nothilfe zum Tragen? Nein, zunächst muß auch hier Gewaltlosigkeit das Ziel sein, auch wenn es noch so nach Illusion aussieht. Natürlich werde ich erst versuchen, den oder die Täter durch Worte von dem Vorhaben abzubringen. Gelingt dies nicht, dann wird Gewaltanwendung zur ethischen und juridischen Pflicht.

Aber Achtung! Da kommt ein neuer Aspekt hinzu: die rechte Wahl der Mittel. Wohlgemerkt, es geht nicht darum, wie der wilde Rächer drauflos zu schlagen oder die Schuldigen, wenn ich im Besitz einer Waffe bin, gleich niederzuschießen. Auch für den Polizisten heißt es zunächst: Anruf (Gespräch), Androhung der Waffengewalt, Warnschuß, erst danach ist der gezielte Schuß erlaubt, aber auch nur soweit, als er erforderlich ist, um die Straftat zu verhindern. Dem Täter bleiben also genug Möglichkeiten, von seiner Tat abzugehen.

Der Erfolg aller Versuche, die Angelegenheit ohne Gewalt zu beenden, hängt aber von der glaubhaften Fähigkeit ab, Gewalt auch wirklich zum Einsatz bringen zu wollen und zu können. Die bloße Drohung wird kaum einen Gewalttäter abhalten. Dem Polizisten die erforderliche Bewaffnung zu verwehren oder den raschen Gebrauch zu erschweren (eine solche Regelung hatten wir in Österreich vor nicht allzu langer Zeit) ist daher ein Verbrechen an sich, am Polizisten (der zur Verhinderung der Tat und zur Hilfe verpflichtet ist) und am Opfer (das mit Recht vom Polizisten Hilfe und Schutz erwartet). Das gilt in gleicher Weise für das Bundesheer und dessen Soldaten.

Vor elf Jahren hatte die furche zu einer Diskussion in den Hörsaal I des Neuen Universitätsgebäudes eingeladen. Viele kamen. Aber Rombendrohung, Stinkbomben im Lehrsaal und Sitzstreiks vor dem Eingang machten es den Diskutan-ten unmöglich zum Podium vorzugehen. Gewaltloser Widerstand? Nein, psychischer Terror. Die Polizei mußte einschreiten und mehrere Personen festnehmen. Gewaltanwendung? Nein, gerechtfertigte Notwehr der Gesellschaft zum Schutz der freien Meinungsäußerung. Es kommt also auch hier auf die Werte, um die es in der Auseinandersetzung geht, an. Diese bestimmen den Grad der Gewaltlosigkeit beziehungsweise der Gewaltanwendung.

Das, was für die Auseinandersetzung im Mikrokosmos gilt, gilt in gleicher Weise auch im Makrokosmos, im Umgang von Staaten untereinander. An die Stelle der Verantwortung des einzelnen für sich und seine Nächsten tritt die Verantwortung des Staates für sein Gemeinwohl. Auch der Staat wird, so er sich dem Naturrecht, der Demokratie und der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet weiß, Gewaltlosigkeit zur Norm seines Handelns machen. Aber auch für ihn gilt der Spruch von „bösen Nachbarn”.

So ist der Staat für den Schutz von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsrecht verantwortlich und verfügt hiezu über das Gewaltmonopol -wohlgemerkt nur zum Schutz! Im Unterschied zum Einzelindividuum, das für sich grundsätzlich auf jedweden Einsatz von Gewalt verzichten kann (und dafür bereitwillig auch alle Konsequenzen auf sich nimmt), gilt dies für den Staat nicht. Ein Staat, der von sich aus erklärt, nie und nimmer Gewalt anwenden zu wollen, gibt sich und damit sein Volk, sein Gebiet und sein Recht auf.

Die längste Friedensepoche, die es jemals in Europa gab, verdankt dieser Kontinent nicht der Friedensbewegung der siebziger Jahre, die in gewissenloser Weise” auch noch die ehrliche Friedenssehnsucht einer ganzen Generation mißbrauchte. Genauso wie Österreich diese lange Friedenszeit nicht seiner Neutralität verdankt. Reides ist unter anderem der Stärke der NATO und der Bereitschaft der USA zu verdanken, notfalls für die Freiheit Europas zu kämpfen. Nicht die Friedensbewegung, sondern die konsequente westliche Politik und Einigkeit hat den Warschauer Pakt zum Zerfall ge-

bracht und den Demokratisierungsprozeß im Osten erst ermöglicht.

Hingegen „verdanken” Zigtau-sende ermordete, verkrüppelte, vergewaltigte und gepeinigte Menschen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien ihre beklagenswerte Situation der Gewaltlosigkeit und Uneinigkeit des Westens. Dem Westen fehlt das Wertbewußtsein, hinter verbalen Drohungen steht keine Bereitschaft zur Gewaltanwendung zum Schutz der Bevölkerung. An Gesprächsbereitschaft zur gewaltlosen Konfliktbewältigung hat es dem Westen nie gefehlt. Aber die Kriegshetzer haben leichtes Spiel, da sie nicht mit militärischen Konsequenzen zu rechnen haben. Und so geht das Morden weiter. Nur ein letztendlich zum gemeinsamen militärischen Einsatz bereites und fähiges Europa (ob als EU, WEU, NATO, KSZE, VN oder was auch immer), hätte dieses Morden verhindern können. Gewaltlosigkeit wird selbst zum Verbrechen, wenn sie Gewalt ermöglicht und Unschuldige dabei zu Schaden kommen.

Österreichs Chance

Gewaltlosigkeit setzt voraus, daß sich alle an die „Spielregeln” halten. Gewaltlosigkeit ist keine Illusion, sie ist ein unabdingbares Ziel. Das gilt für das eigene Handeln wie für das Handeln von Staaten. Jeder für sich kann sofort damit beginnen, indem er auch in kleinen Dingen nicht rücksichtslos, sondern zuvorkommend agiert. Indem er aber auch bereit ist, notfalls mit Gewalt, für die Schwachen, Ausgegrenzten, Bedrohten einzutreten, um sie so vor Gewalt zu schützen. Damit kann jeder einen kleinen, aber wichtigen Beitrag zu einer gewaltfreieren und damit friedvolleren Umgebung leisten.

Österreich hat darüber hinaus nun die Chance, auch an einem gewaltfreieren Europa mitzuwirken, nicht als Trittbrettfahrer, sondern als aktiver Mitarbeiter bei friedenserhaltenden, aber auch bei friedensschaffenden Operationen im Rahmen der VN und eines noch zu schaffenden europäischen Sicherheitssystems. Dazu bedarf es nicht nur einer aktiven Friedenspolitik, sondern auch eines entsprechenden Instrumentes zur Durchsetzung dieser Friedenspolitik. Und dazu gehört unter anderem auch ein bestens ausgerüstetes, ausgebildetes und motiviertes Bundesheer das fähig ist zu schützen und zu helfen und damit einen Beitrag zum Frieden zu leisten.

Frieden sichern und Gewalt verhindern - dann, und nur dann, wird Gewaltlosigkeit nicht zur Illusion.

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