Es gilt, Grenzen zu setzen

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Wenn wir über die neuen Möglichkeiten der Lebenswissenschaften sprechen, geht es nicht in erster Linie um wissenschaftliche oder um technische Fragen. Zuerst und zuletzt geht es um Wertentscheidungen. Wir müssen wissen, welches Bild vom Menschen wir haben und wie wir leben wollen.

Ethische Grundsätze zu formulieren, das bedeutet, sich auf Maßstäbe und auf Grenzen zu verständigen. Nun ist es immer leicht, die Trauben zu verschmähen, die unerreichbar hoch hängen. Schwierig ist es, Grenzen da zu setzen und akzeptieren, wo man sie überschreiten könnte und sie sogar dann zu respektieren, wenn man dadurch auf bestimmte Vorteile verzichten muss. Ich glaube aber, dass wir genau das tun müssen.

Ich glaube, dass es Dinge gibt, die wir um keines tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteiles willen tun dürfen. Tabus sind keine Relikte vormoderner Gesellschaften, keine Zeichen von Irrationalität. Ja, Tabus anzuerkennen, das kann Ergebnis aufgeklärten Denkens und Handelns sein. (...)

Was in der Biotechnologie und in der Fortpflanzungsmedizin geschieht oder möglich ist, das hat in einem wesentlichen Punkt eine völlig neue Qualität: Da geht es nicht mehr allein um technologische Chancen und Risiken für Mensch und Umwelt. Zum ersten Mal scheint die Menschheit fähig, den Menschen selber zu verändern, ja ihn genetisch neu zu entwerfen.

Angesichts der moralischen Dimension dieser Fragen wird es niemanden erstaunen, dass die Kirchen hier besonders engagiert sind. Es wäre aber ein Irrtum, zu glauben, es handelte sich dabei um bloße kirchliche Sondermoral.

Man muss ja wahrlich kein gläubiger Christ sein, um zu wissen und um zu spüren, dass bestimmte Möglichkeiten und Vorhaben der Bio- und Gentechnik im Widerspruch zu grundlegenden Wertvorstellung vom menschlichen Leben stehen. Diese Wertvorstellungen sind - nicht nur bei uns in Europa - in einer mehrtausendjährigen Geschichte entwickelt worden. Sie liegen auch dem schlichten Satz zu Grunde, der in unserem Grundgesetz allem andere vorangestellt ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Diese Wertvorstellungen zieht niemand ausdrücklich in Zweifel. Wir können es uns aber auch nicht leisten, ethische Überzeugungen unbewusst oder schweigend aufzugeben oder sie zur Privatangelegenheit zu erklären.

Wir müssen uns darüber klar sein, was die Folgen wären, wenn wir den Wertekanon, den wir in einer langen Geschichte entwickelt haben, als Grundlage allen staatlichen Handelns in Frage stellten. Würden wir dann nicht die Gefangenen einer Fortschrittsvorstellung, die den perfekten Menschen als Maßstab hat? Würden damit nicht Auslese und schrankenlose Konkurrenz zum obersten Lebensprinzip?

Keine schöne Welt

Das wäre eine völlig andere, das wäre eine neue Welt - keine schöne. (...)

Selbstverständlich: Wirtschaftliche Argumente haben einen legitimen Platz in der Debatte über die Nutzung des medizinischen Fortschritts. Für Arbeitsplätze zu sorgen, für gesicherte Lebensverhältnisse - das ist natürlich auch eine ethisch begründete Verpflichtung. Dazu gehört Unternehmergeist. Dazu gehört das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg. Dazu gehört politische Leistung. Die Teilhabe aller an Fortschritt und Wohlstand ist ein Gebot der Gerechtigkeit.

Entscheidend sind aber doch Rangordnung und Gewichtung der Argumente. Wir sind uns gewiss einige darüber, dass etwas ethisch Unvertretbares nicht dadurch zulässig wird, dass es wirtschaftlichen Nutzen verspricht.

Wo die Menschenwürde berührt ist, zählen keine wirtschaftlichen Argumente. (...)

Bei uns in Deutschland darf an Embryonen nicht geforscht werden. Das haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus ganz unterschiedlichen Überzeugungen heraus im Jahr 1990 beschlossen. Sie haben als Beginn des schutzwürdigen menschlichen Lebens die befruchtete Eizelle festgelegt. Wer die Auffassung nicht teilt, das menschliches Leben mit diesem Zeitpunkt beginnt, der muss die Frage beantworten: Ab welchem anderen Zeitpunkt sollte menschliches Leben absolut geschützt werden? Und warum genau erst ab diesem späteren Zeitpunkt?

Wäre nicht jede solche andere Grenzziehung willkürlich und dem Druck auf neuerliche Veränderung ausgesetzt? Bestünde nicht die Gefahr, dass andere Interessen dann höher rangierten als der Schutz des Lebens? Nicht jedem scheint klar zu sein, was das über diese spezielle Debatte hinaus bedeutet. Es würde bedeuten, das ethisch Verantwortbare stets neu den technischen Möglichkeiten anzupassen.

Auszug aus der Rede des Deutschen Bundespräsidenten vom 18. Mai 2001 in der Staatsbibliothek Berlin.

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