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Ethik und Psychologie

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Seitdem der abendländische Mensch zu denken begann, stolperte er über das Problem des Verhältnisses zwischen Leben und Geist, zwischen Materie und Geist, zwischen Fleisch unc Geist. Die Kluft, die in seinem Denken diese beiden Kategorien trennte, führte immer wiedei zur Verabsolutierung eines dieser polaren Begriffe und Mißachtung des anderen. Sogar die heutige säkularisierte Wissenschaft krankt an diesem Zwiespalt. Die sogenannte psycho-physische Relation, psychosomatische Probleme, leibseelische Ganzheit und dergleichen mehr sind noch immer Ausläufer einseitiger Versuche, dieses Problem des abendländischen Menschen zu lösen. Immer wieder wurden Lösungen vorgeschlagen, die einfach der Unterdrük-kung des komplementären Tatbestandes gleichkamen. Immer schwankte die Antwort zwischen Materialismus und Spiritualismus.

Auch in der Psychologie hat man die Antwort auf dieses Problem gesucht. So z. B. wenn man die Normen des Verhaltens — die Ethik also — auf den Befunden der empirischen Psychologie aufbauen möchte. Indessen kann dieser Wunsch deshalb nicht in Erfüllung gehen, weil, wie die Tiefenpsychologie selbst imstande ist, dies hypothetisch aufzuzeigen, der Mensch einer Transzendenz gegenüber offen ist, das heißt, daß er sich ständig über sich selbst hinaus entwickelt und deshalb nicht aus einer Faktizität, einem erreichten Tatbestand, normativ definiert werden kann. Die faktische Welt des Menschen ist also nicht mit sich selber identisch, und es ist sinnlos, in ihr letzte Ziele für die Entwicklung des Menschen zu suchen.

Doch ist nicht jedes Anliegen des heutigen Menschen an die Tiefenpsychologie sinnlos. Denn diese ist Symptom einer Meditation, ja einer Kontemplation des heutigen Menschen, der das leben will, was er ist. Er will also die ihm zuteil gewordenen Möglichkeiten ernst nehmen, und das ist eine alte, fruchtbringende abendländische Ueberlieferung. So ergänzen sich und befruchten sich Ethik und Psychologie gegenseitig. Beim Tier herrscht Identität zwischen den tatsächlichen Verhaltensweisen und den seinsollenden Verhaltensweisen. Es gibt für das Tier keine Ethik, es gibt für das Tier nur eine Ethologie — das ist der moderne Namen für die Verhaltensforschung. Die Vervollkommnung des Tieres ist mit dem Maximum der Leistungsfähigkeit seiner erblich angelegten Verhaltensweisen identisch; beim Menschen aber wird dieses Maximum der Leistung augenblicklich zu einem Minimum. Die Ethologie des Menschen, seine Verhaltensweise, ist also eine durchaus bewegliche Grundlage seiner Ethik, eine Grundlage, die sich ständig nach oben verlagert. Wollte man also Ethik auf Psychologie zurückführen, so würde man damit den Menschen auf ein Prokrustesbett spannen. Und das tun die meisten unserer Psychologen.

Die Begrenzung des Menschen durch sein Fleisch und durch die Welt der Objekte ist eine imrner doppeldeutige und bewegliche Begrenzung. Die Welt der äußeren Objekte und das Fleisch, das wir als Welt der Objektivität in uns bezeichnen könnten, sind in sich selbst nicht erfaßbar, indem sie vorübergehende und unsichere Symbole einer Beziehung zur Transzendenz sind Jede Wahrnehmung der einen oder anderen Welt ist in der Tat bereits ein Produkt zwischen Innerlichkeit meinet Geistes und Objektsein der Materie. In jeder Erkenntnis waltet bereits eine Heischwerdung, eine Kenosis des Geistes, aber auch eine Spirituali-sierung, eine Ekstase der Materie. Denn nie ist unser Geist wirksam ohne einen gewissen Grad der Fleischwerdung, und nie ist die Materie erfaßt ohne einen gewissen Grad der Transzen-dierung, ohne Ueberwindung des Zeichens, in welchem sie sich kundtut. Das bedeutet, daß der Weg des Fleisches insoferne notwendig und gut ist, als er zum Geiste führt.

Es gibt aber und gab immer zwi extreme Arten, diesen Weg einzuschlagen. Erstens kann man sich der Materie unterwerfen — was teilweise in Ausschweifung, teilweise etwa in Anbetung der Technik geschehen ist —, um deren Materialität zu erschöpfen. Es ist dies der Weg der Selbstfindung ohne Selbstüberwindung. Zweitens, man kann der Materie „nein“ sagen, man kann ihr absagen, um die Spiritualität zu erreichen. Dies ist der Weg der Selbstüberwindung ohne Selbstfindung. Der erste, gnostizistische Weg ist gefährlich, denn man riskiert dadurch, am Symbol haften zu bleiben, aus dem Symbol einen Selbstzweck, eine Attrappe zu machen. Der zweite Weg ist gefährlich, denn wenn man das Symbol ignoriert, das ein Wegweiser sein soll, kann man sich das Genick brechen. Man soll die Symbole entziffern können, um sie dadurch zu überwinden: Dies ist das alte Bild des Oedipus vor der Sphinx. Um ihren Sinn zu verstehen, muß man sie beschauen. Wie kann man aber die Symbole überwinden?

In der Ueberwindung der Welt der Erscheinungen vergißt man allzuoft das Eigentliche. Es gib.t Menschen, die ihr Leben lang von Ueberwindung sprechen, bloß sich selbst überwinden sie nicht. Die Selbstüberwindung setzt die Relativierung des eigenen Ichs voraus. Der manichäische Haß gegenüber der Materie und dem Fleisch, der Hochmut, der im dauernden Gespräch vom Geiste sich zu berauschen vermag, ist im wesentlichen noch ichgebunden, ist nur eine feinere Differenzierung jener triebhaften Kräfte, die Freud Ichtriebe nannte. Das triebhafte Ich ist selbst das unvollkommene Symbol der werdenden Person. Die Tiefenpsychologie hat dazu beigetragen, dieses Symbol in einer positivistischen Welt wiederzufinden. Die Psychologie ward zu einem wichtigen Beitrag unserer Kultur zur Selbstfindung des Menschen, und der heutige Mensch hat dies deutlich gespürt, indem er in unserer bedrohenden und unmenschlichen Gesellschaftsform sich mit übertriebenem Vertrauen der Psychologie zuwandte.

Wie wir gesehen haben, hat diese aber auch vor dem armen menschlichen Ich kein Halt gemacht. Auf Umwegen der Zerquälung und des Nihilismus hat nun der moderne „homo psychologicus“ den Weg zur Selbstbesinnung eingeschlagen und dadurch den Weg zum besseren Verständnis seiner selbst und der Welt. Wenn auch die Psychologie ihm keine Sicherheit brachte, so ist doch ihre Leistung nicht zu unterschätzen. Vielleicht ist es ein großes Glück gewesen, daß die seit Freud systematisch betriebene Seelenzergliederung, die künstliche Selbstspaltung, einige Jahrzehnte der Atomspaltung vorausging. Wer weiß, was bereits geschehen wäre, wenn die Zeitfolge umgekehrt gewesen wäre. Der allzu sichere autonome Mensch der ausklingenden positivistischen Aera war vielleicht zu schrecklicheren Wahnsinnstaten bereit als der heutige unsichere Mensch. Denn die Beschäftigung mit sich selbst hat den Menschen in unserem psychologischen Jahrhundert zuerst in seiner Autonomie, in seiner Selbstsicherheit, ja in seinem Hochmut bestärkt. Doch bald führte diese Selbstbeschäftigung zögernd dazu, daß er ahnen konnte, ein nach oben in einer geheimnisvollen Dimension offenes Wesen zu sein. So fühle ich mich berechtigt, die heute Ihnen gebotene Skizze des kritischen Wendepunktes in der Psychologie mit einer optimistischen Vermutung abzuschließen: Nämlich, daß die menschliche Wissenschaft von sich selbst Symptom einer schweren geistigen Krankheit, aber zugleich wie jedes Symptom auch Versuch einer Selbstheilung ist: Symptom der verzweifelten Suche des Menschen nach sich selbst und hoffentlich auch Zeichen einer Heimkehr des Menschen zu sich selbst.

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