"Europa hat die Koordinaten verloren"

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Vergangenen Montag wurde dem ungarischen Schriftsteller Peter Esterhazy der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur überreicht. Im folgenden Gespräch geht es um Ungarns Umgang mit seiner Vergangenheit und Europa nach der Wende, um Hoffnung, Ratlosigkeit und Esterhazys Schaffen.

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Vergangenen Montag wurde dem ungarischen Schriftsteller Peter Esterhazy der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur überreicht. Im folgenden Gespräch geht es um Ungarns Umgang mit seiner Vergangenheit und Europa nach der Wende, um Hoffnung, Ratlosigkeit und Esterhazys Schaffen.

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dieFurche: Peter Esterhazy, der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur wurde Ihnen zehn Jahre nach der sogenannten Wende verliehen. Ich möchte Ihnen einige Fragen zur Situation Ungarns stellen, die ich in Ihrem letzten Buch "Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors" gefunden habe: "Was gibt es jetzt? Ist Dornröschen aus dem Schlaf erwacht? Sind die Dichter glücklich in Freiheit? Wird das Grau des Sozialismus durch die vielen Farben einer vielfarbigen Gesellschaft abgelöst?"

Peter Esterhazy: Es ist erstaunlich, daß es schon zehn Jahre her ist. Manchmal hat man das Gefühl, daß die zehn Jahre so schnell vergangen sind. Es ist eine andere Welt. Es ist viel geschehen, die Welt ist viel fremder geworden, auch für die Schriftsteller vielleicht, aber es wurde nicht viel gemacht. Die Gesellschaft hat sich mit sich selbst nicht beschäftigt; auch nicht mit der Vergangenheit. Und ohne das ist es schwer vorstellbar, daß man mit dem Jetzt etwas anfangen kann. Es ist nicht so, wie man sich das vorgestellt hat: daß man nachdenkt und logische Ziele setzt und dann versucht, diesen nachzugehen, sondern alles geschieht nur so. Das ist ein schönes, großes Erlebnis, denn in einer Diktatur geschieht nichts. Man kann alles wissen, nein, man kann nichts wissen, aber dieses Nichts weiß man, und das ist ziemlich wichtig und bedrohlich.

dieFurche: Viele Menschen sprechen über ihr Leben im Kommunismus als verlorene, gestohlene Jahre. Warum kritisieren Sie das?

Esterhazy: Das ist eben eine falsche, ich würde sagen, auch eine feige Einstellung: im nachhinein zu sagen, daß mein Leben gestohlen wurde. Das sagen viele - bei uns, aber besonders in Ostdeutschland. Aber das, was geblieben ist, das war dann unser Leben. Das ist auch eine Aufgabe: zu sehen, was zu mir gehört und was zum System gehört. Und zu sagen, daß alles, was das System betrifft, nichts ist und schlecht ist und Lüge, schließt natürlich nicht aus, daß mein eigenes Leben viele Werte haben kann: Ich war jung, war verliebt und so weiter. Aber das ist eine Sache, über die nachzudenken sehr unangenehm ist - besonders über die sechziger bis achtziger Jahre, wo bei uns diese "softe Pornographie", wie ich es immer nenne - geherrscht hat. Daran zu denken ist noch unangenehmer, denn in einer richtigen Diktatur war das Überleben so viel wichtiger, daß da auch die Fehler und der Verrat, den man begangen hat, sehr groß waren, denn es ging um Leben und Tod.

Doch in den Kadar-Zeiten ging es schon nicht mehr um Leben und Tod, in dieser "fröhlichsten Baracke" ging es um Trabant oder Nicht-Trabant. Und da sind die Kompromisse im nachhinein wirklich lächerlich. Sich damit zu konfrontieren ist unangenehm. Es wird auch nicht gemacht; niemand beschäftigt sich damit. Es wird auch gesagt, daß das natürlich ist, daß man 20 Jahre braucht; auch in Deutschland war in den fünfziger Jahren nicht über die Zeit vor 1945 die Rede, sondern erst Anfang der achtziger Jahre.

dieFurche: 1989 haben Sie geschrieben: "Die Russen sind weg, die Donau ist noch immer die Donau, und wir schauen uns an und wissen nicht, wer wir sind." Weiß man das heute besser?

Esterhazy: In einer Demokratie zeigt sich auch, wer wer ist - besser als in einer Diktatur. In einer Diktatur besteht eine Ja-Nein-Situation. Das hilft dem Menschen manchmal, denn "ja" will er nicht sagen, eine andere Möglichkeit hat er nicht, dann sagt er "nein" - und stirbt oder stirbt beinahe, opfert sein Leben. Aber das ist nicht normal. Normal ist: Zehn Prozent ja, 30 Prozent nein, dann ein bißchen, ein Vielleicht - das ist sehr bunt. Insofern weiß man schon besser, wer wir sind, zum Beispiel, daß diese Frage unberechtigt ist: Was ist "wir"? Dann sieht man schon, daß dieses "Wir", das auch früher gelogen war, so nicht existiert.

dieFurche: Und dieses Wissen ist auch Teil einer gesamteuropäischen Ratlosigkeit geworden - Europa vereint in Ratlosigkeit, wie Sie geschrieben haben.

Esterhazy: Ja, das sehen wir fortwährend, daß man die Koordinaten verloren hat. Vielleicht wäre ich zu allen Zeiten immer ratlos. Ratlosigkeit gehört auch persönlich zu mir, und wenn ich dann ratlos bin, dann weiß ich nicht, ob das ein persönlicher oder ein äußerst europäischer Reflex ist.

dieFurche: Europäisch auch insofern, als wir noch immer einer Kultur angehören, die in Auschwitz versagt hat.

Esterhazy: Ja, das ist etwas, was wir immer mitbringen werden. Das Außergewöhnliche an Auschwitz ist nicht etwas, was wir hinter uns haben können; das gehört zum Kern der Sache, daß wir versagt haben. Dieses Versagen gehört nicht zu den Deutschen, es gehört zu den Menschen. Ein Deutscher soll das vielleicht nicht so betonen, aber ich kann das. Das ist das Schwere: Wenn wir darüber zu sprechen anfangen, können wir nur falsch sprechen: entweder zuviel sagen oder zu wenig, entweder wollen wir ein Denkmal oder kein Denkmal - alles ist falsch oder beinahe alles - nicht persönlich falsch, sondern diese Situation ist die Situation des Versagers - das ist Europa. Das kann man nicht vergessen. Das kann man nur ständig wissen. Man versucht es immer wieder, als Problem zu bezeichnen oder so damit umzugehen. Wäre es ein Problem, hätte man die Hoffnung, daß man es löst, denn Probleme sind zum Lösen da, aber Auschwitz ist kein Problem.

dieFurche: Wo sind in dieser Ratlosigkeit am ehesten Ressourcen, die es wert sind, befragt zu werden, aus denen zumindest eine Hoffnung herkommen könnte: aus der Literatur, aus unserer Kultur, aus der Religion?

Esterhazy: Ich habe einmal beschlossen, auf die Frage, woher die Hoffnung kommt, nur mit einem Kopfschütteln zu antworten. Ich fürchte, darüber kann man nur Eseleien sagen, denn andererseits ist Hoffnung überall. Aber alles, was man sagt, ist platt, denn Hoffnung ist auch sehr persönlich. Zu sagen: "Ich liebe dich", ist ziemlich platt. Aber wenn man verliebt ist, dann weiß man, daß das trivial wahr ist und kein Selbstbetrug. Oder manchmal kommt es, daß man eben darüber schonungslos schreibt; das ist auch Hoffnung. Über die Hoffnungslosigkeit zu schreiben oder nachzudenken ist schon selbst die Hoffnung.

Aber jetzt denke ich, das ist auch zu sehr "entweder-oder": Hoffnung und Hoffnungslosigkeit ist als Paar aufgestellt. Ist das richtig so? Wenn es so ist, ist es vielleicht wahr, daß es manchmal keine Hoffnung gibt. Manchmal glaube ich, daß alles, was vorhanden ist, was existiert, was wahr ist, sehr interessant ist. Ich sage immer: interessant und lustig - das sind die zwei Wörter. Deportiert zu werden, war sehr interessant, denn es war wahr. Auch die schlimmen Dinge können sehr interessant sein. Hoffnung und Hoffnungslosigkeit sind nicht meine Wörter, weil ich glaube, daß ich nichts als hoffnungslos betrachte.

dieFurche: Und gibt es geistige, kulturelle Quellen, die angesichts der heutigen Situation zumindest noch interessant sind?

Esterhazy: Das ist eine gute Frage. Was mich betrifft, sehe ich gerade die Möglichkeiten der Literatur als sehr wichtig. Was ich jetzt mache, ist für mich sehr fraglich - Sätze über die Welt zu sagen. Der einzige Sprechakt, den ich relevant finde, ist die sogenannte schöne Literatur, die Stimme der Literatur oder in concreto des Romans. Das ist die Stimme, die ich für wahr halte oder für wahr halten könnte.

dieFurche: Wann ist ein Roman wahr?

Esterhazy: Ja, darauf kann ich nur sagen: Wenn er gut ist. Und wann er gut ist, das ist schwer zu sagen.

dieFurche: Aber wenn man ihn abgeschlossen hat, gibt es wahrscheinlich ein Gefühl, mit dem man das beurteilt.

Esterhazy: Das ist die Frage: Wann ist er fertig? Das ist ein sehr schöner Prozeß, zu fühlen, wann ein Roman fertig ist - ein Gefühl der Fülle, das muß man erreichen. Das ist ein sehr schwerer Prozeß - es ist eher ein Spüren und nicht etwas Objektives. Das ist auch ein Problem des Romans in diesem Jahrhundert: Wie beendet man einen Roman? Darüber muß man mehr sinnieren als früher. Es gelingt auch oftnicht. Robert Musil ist ein schönes Beispiel: Das gehört zur Struktur des Romans "Der Mann ohne Eigenschaften", daß man ihn nicht beenden kann. Natürlich ist das ein sehr großer Roman, darum kann man ihn nicht beenden. Einen mittelmäßigen Roman kann man immer beenden.

dieFurche: Jetzt kann ich Sie natürlich nicht mehr fragen, ob Sie bald wieder einen Roman beenden.

Esterhazy: Ja, unabhängig von dem, was wir bisher gesprochen haben, ich werde ihn beenden. Ich habe etwas angefangen - es ist schon ziemlich lange her, 1991 - und wenn ich nicht zu viele Interviews gebe, dann beende ich ihn demnächst. Ich habe sehr lange und viel damit gearbeitet. Wenn ich damit fertig bin, dann wird das gut sein.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

ZUR PERSON Mathematiker und Essayist Peter Esterhazy, Romancier, Essayist und Dramatiker, 1950 in Ungarn geboren, wurde als Einjähriger mit seiner Familie deportiert, war Schüler des Piaristen-Gymnasiums und studierte von 1969 bis 1974 Mathematik (ein Lehramtsstudium war aus politischen Gründen nicht möglich). Er ist Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, der Akademie der Künste, Berlin und der Academie Europeenne, Paris. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderen dem Kossuth-Preis, dem höchsten Literaturpreis Ungarns. Am 13. 12. 1999 nahm er in Wien den Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur entgegen. Auf deutsch erschienen seine Werke im Residenz-Verlag.: "Wer haftet für die Sicherheit der Lady?", "Kleine ungarische Pornographie", "Das Buch Hrabals", "Donau abwärts", "Eine Frau"; 1999 erschien die Aufsatzsammlung "Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors" sowie der Sammelband "Was für ein Peter. Über Peter Esterhazy"

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