Europa ist nicht "christlich"

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Der Konvent für einen EU-Verfassungsvertrag macht Fortschritte.Die Fragen nach den geistigen Grundlagen Europas bleiben aber nach wie vor ungeklärt.

Vor wenigen Tagen ließ Valéry Giscard d'Estaing, der Präsident des EU-Konvents, der zur Zeit den Verfassungsvertrag für Europa berät, mit einem Interview in Le Monde aufhorchen. Der französische Ex-Präsident erteilte darin der Aufnahme der Türkei in die EU apodiktisch eine Absage. Auch wenn zahlreiche Vertreter europäischer Regierungen Giscard mehr oder weniger vehement widersprachen und Ankara versicherten, die Türkei zähle weiter zu den Beitrittskandidaten, so zündete Giscard eine Diskussion an, die längst fällig, aber durchaus noch nicht entschieden ist: Wo endet Europa? Gibt es eine Grenze, die zu ziehen sinnvoll wäre? Eine kulturelle? Politische? Religiöse? Konfessionelle? Historische?

"Es ist interessant, dass die Grenzfrage Europas erst jetzt auftaucht", meint dazu Kardinal König in dieser Woche auch im Furche-Interview (vgl. Seite 3). In der derzeitigen geopolitischen Lage denken viele dabei natürlich an den Islam, und im Falle der Türkei wird auch nicht erst seit dem jüngsten Wahlsieg der "gemäßigten" Islamisten die Spannung zwischen politischen Interessen und kulturellen Realitäten, die auch von religiösen Wirklichkeiten bestimmt sind, offenkundig.

Zusätzlich ist - obwohl das Beitrittsprocedere für die EU-Erweiterung voll im Gang ist - auch die Diskussion über kulturelle Gemeinsamkeiten und Grenzen zwischen dem westkirchlich geprägten Europa und den Staaten mit orthodoxer Tradition noch nicht sehr entwickelt; mit Rumänien und Bulgarien stehen - nach Griechenland - orthodoxe Staaten für die zweite Beitrittsrunde an.

Der EU-Konvent, der bis Mitte nächsten Jahres eine Verfassungsgrundlage, die auch eine Union mit weit mehr als 20 Mitgliedsstaaten trägt, erarbeiten soll, hat erste Ergebnisse vorgelegt. Rund um die Arbeit des Konvents zeigt sich aber, dass nicht nur politische und rechtliche Fragen, sondern auch die geistigen Grundlagen, die "Identität" Europas zu klären sind.

Spätestens hier wird klar, dass auch die Religionen und kirchlichen Traditionen Europas zum Tragen kommen müssen. Verschiedene Initiativen und Wortmeldungen haben in den letzten Tagen gerade dies thematisiert: So deponierte Papst Johannes Paul II. bei Giscard, dass in der EU-Verfassung der religiöse Aspekt nicht ausgeblendet werden dürfe. Letzten Freitag, als Johannes Paul II. als erster Papst das italienische Parlament besuchte, wies er erneut darauf hin, dass das christliche Erbe Europa "groß gemacht" habe.

Religion in EU-Verfassung?

In ähnlicher Weise haben sich in den letzten Wochen katholische Bischofskonferenzen wie die französische geäußert, die das "religiöse Erbe" Europas in die EU-Verfassung hineinreklamierten; sowohl die katholische als auch die anderen Kirchen Europas hatten bereits im Oktober gefordert, dass die besondere Stellung der Kirchen auch in den Konvents-Beratungen zu berücksichtigen sei.

In den letzten Tagen kamen dazu politische Signale: Die EVP, der Europa-Zusammenschluss konservativer und christdemokratischer Parteien, will, dass im Verfassungsvertrag die Rechtsstellung der Kirchen festgehalten sowie der "Glaube an Gott" in dessen Wertekatalog aufgenommen wird. Und auch Europas Sozialdemokraten schließen die Erwähnung der Kirchen darin nicht mehr aus.

Gerade bei der Kirchenfrage muss der Konvent versuchen, Traditionen von laizistisch bis staatskirchlich unter einen Hut zu bringen (vgl. auch dazu Kardinal König, Seite 3).

Die Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften in Europa ist das eine. Viel wichtiger scheint dennoch der - bereits angesprochene - religiöse Beitrag zur geistigen Identität des Kontinents zu sein. Der Pastoraltheologe Paul Weß legt dazu in einem neu erschienen Essay beispielhafte Überlegungen vor (Paul Weß, Welche soziale Identität braucht Europa?, Czernin Verlag, Wien 2002).

Keine Beschwörungen!

Religionen, so Weß, können und sollen keine absolute Begründung ethischer Normen geben. (Würden sie sich das anmaßen, wäre der Fundamentalismus, d.h. die Beherrschung des Menschen im Namen Gottes, nicht mehr weit.) Hingegen könnten die Religionsgemeinschaften beispielhafte Modelle sozialer Identität einbringen.

Solchem Befund ist ebenso zuzustimmen wie Weß' nüchterner Beobachtung: Die Praxis Jesu Christi habe die Menschen in Europa "nicht wirklich geprägt", und das Christentum sei "in seiner tradierten Form" nicht imstande, "der Europäischen Union zu helfen, ihre Seele' zu finden". Weß scharfblickend: Die Berufung auf ein "ungeklärtes Erbe gemeinsamer Werte" genüge nicht, um für Europa eine "soziale Identität" zu finden.

Hier wird ungeschminkt aufgedeckt: Nicht nur Institutionen wie der EU-Konvent sind angehalten, Fragen der Religion und eines Wertekonsenses zu thematisieren, sondern auch bei den Kirchen und Religionen selbst ist Klärungsbedarf nötig: Welche exemplarischen Modelle können sie einbringen?

Das bedeutet wesentlich mehr, als das Christentum als "Europas Muttersprache" (so dieser Tage der frühere Bundesratspräsident Herbert Schambeck bei einem Symposium in Rom) einmal mehr zu beschwören. Ein neues, tragfähiges Europa bedarf auch einer ganz neuen Auseinandersetzung um seine (religiösen) Grundlagen - insbesondere, wenn über eine weitere Süd- bzw. Osterweiterung der EU mehr (Türkei) oder weniger (Ukraine...?) diskutiert wird: Diese Hausaufgaben sind zur Zeit keineswegs gemacht.

otto.friedrich@furche.at

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