Europas Kirche ist nicht dekadent

Werbung
Werbung
Werbung

Er kämpft als Priester für die kleinen Gemeinden und gegen eine zentrale Glaubensverwaltung. Helmut Schüller will überzeugen: Das europäische Christentum ist die Avantgarde der Kirche.

* Das Gespräch führte Otto Friedrich

Als leidenschaftlicher "Landpfarrer“ stellt sich Helmut Schüller gegen die Errichtung zentraler "Seelsorgeräume“. Und hinterfragt auch den vorgeblichen Niedergang des Christentums in Europa.

Die Furche: Das katholische Christentum in Europa gilt als eine Religion im Abbruch.

Helmut Schüller: Ich stelle diese Einschätzung infrage. Wahr ist: Das Christentum in Europa ist besonders exponiert. Es ist der Teil des weltweiten Christentums, der sich am intensivsten in Auseinandersetzung mit der Moderne befindet. Die Kirchen, die heute blühender ausschauen - in Afrika, Asien oder auch in Lateinamerika - haben diese Prozesse noch vor sich. Eigentlich geht das europäische Christentum voraus. Die Grundannahme, dass es sich in Europa um einen Rückzug oder gar um Dekadenz handelt, müsste man gründlich hinterfragen.

Die Furche: Warum hört man letztere Einschätzung aber so oft?

Schüller: Sie hilft, sich vor Rückfragen an die Kirche zu schützen. Man sagt: Die Kirche blüht dort, wo sie konservativer als im Westen ist. Das stimmt aber so nicht, wie wir auch an europäischen Beispielen sehen - etwa Polen und Irland: Dort sei der Katholizismus aufgrund einer konservativen Gangart besonders stark, wurde immer wieder gesagt. Aber beide Länder sind in tiefe Krisen geschlittert: Nicht das polnische Modell hat auf Westeuropa übergegriffen - es ist umgekehrt. Die Rede von der dekadenten Kirche im Westen verleitet dazu, strukturkonservativ zu sein: Wir müssen so bleiben, wie wir sind, dann wird alles gut.

Die Furche: Die Kirche muss sich also auch der Strukturdiskussion stellen?

Schüller: Auf jeden Fall. Man muss fragen: Was prägt die westlichen Gesellschaften? Dazu gehören Elemente wie Demokratie, Gleichberechtigung der Frau, mehr Verantwortung für den Einzelnen. Hier ist die Kirche nicht mitgezogen. Wir müssen daher die Diskussion darüber auch im Innenraum der Kirche führen: Die Antwort auf die gesellschaftlichen Herausforderungen ist auch eine Reform der Strukturen.

Die Furche: Dem entgegen führt man wieder das "christliche Abendland“ im Mund.

Schüller: Es wartet niemand - außer einigen Strömungen mit durchschaubarer Intention - auf ein abendländisches Christentum im Sinn der Abwehr gegenüber anderen Kulturen und Religionen. Das Christentum wäre zusammen mit der jüdischen und teilweise auch mit der islamischen Tradition ja durchaus begabt und beauftragt, Brücken zu schlagen. Es darf die Welt nicht mit neuer Provinzialisierung belasten.

Die Furche: Aber nicht nur christliche religiöse Führer beklagen, dass in Europa Gott aus dem Leben verschwindet.

Schüller: Das sehe ich nicht. Allerdings sind die bisher gepflegten Formen, an denen man das gemessen hat, zu hinterfragen. Vieles an Gottsuche ist aus den Großkirchen ausgewandert; die rasche Negierung von allem, was nicht mehr in eigenen Gemäuern stattfindet, ist eine sehr oberflächliche Einschätzung.

Die Furche: Sie treten stark für Pfarrgemeinden ein. Betrifft die Notwendigkeit zur Strukturänderung aber nicht auch die Pfarren?

Schüller: Selbstverständlich. Die Frage ist: Wie ist heute Gemeinde zu leben? Diese ist nach wie vor die Urform der Gemeinschaft der Glaubenden rund um Eucharistie und in der Diakonie und in der Verantwortung vor Ort. Sie muss auch von der Kirchenleitung mit allem ausgestattet werden, was sie braucht, und darf nicht in einem Rückzugsgefecht von der Bildfläche genommen werden.

Die Furche: Aber auch fortschrittliche Theologen rufen das Ende der Gemeinde aus.

Schüller: Da überschätzt man einige Moden. Selbstverständlich bekommen wir in den Gemeinden mit, dass sich die Menschen auch anderswo ansprechen lassen. Aber wo es sich um die Verantwortung für überschaubare Lebensräume handelt, geht es ohne die Ortsgemeinde nicht. Wir kranken zurzeit daran, zu wenige kleine Gemeinden zu haben und in den großen Stadtpfarren schon jetzt zu viel zentrale Glaubensverwaltung. Ein Blick auf die globalen Entwicklungen zeigt, dass die Freikirchen, die etwa in Lateinamerika Zulauf haben, es fast bis zur Wohnviertelpräsenz bringen. Das ist das Thema. Das brauche aber auch eine neue kirchliche Amtsstruktur - und neue Eigenverantwortung für die Gemeinden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung