Europas schwindende Vielfalt

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Karl-Markus Gauß reist durch Europa und entdeckt Gottscheer, Sepharden, Aromunen, Sorben, vergessene Minderheiten.

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Karl-Markus Gauß reist durch Europa und entdeckt Gottscheer, Sepharden, Aromunen, Sorben, vergessene Minderheiten.

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Sterbende Europäer" nennt Karl-Markus Gauß seine Begegnung mit den Sepharden von Sarajevo, den Gottscheer Deutschen, mit Arbereshe in Kalabrien, Sorben in Deutschland, Aromunen in Mazedonien. Der Essayist reist nicht nur mit dem Flugzeug und Auto durch Europa, sondern auch in Büchern und Geschichten. Sein Ziel ist das Europa vergessener Menschen und Minderheiten. Die Kombination aus Recherche, Reisebericht und Reflexion fördert Verständnis für nationale und politische Konflikte und bringt Überraschendes zutage.

Ein verstecktes Leitmotiv ist dabei Isaiah Berlins Kommentar, die Nation sei eine Gruppe von Menschen, die sich in einem gemeinsamen Irrtum über ihre Herkunft befinden. Bereits die Aufzählung der Reiseziele birgt einiges Unbekanntes. Oder hat der Leser schon vom Volk der Aromunen gehört? Könnte er, wenn er die richtigen Zeitungen liest, denn in der umkämpften Stadt Tetovo in Mazedonien leben auch Aromunen. Sie sind ein altes Volk mit vielen Namen, verteilt auf viele Länder, waren bereits in der frühen Neuzeit als Händler durch Europa unterwegs, haben es zu Reichtum gebracht und werden von manchen Forschern als Nachfahren der von Homer geschilderten Pelasger gesehen. Aromunen als die wirklichen Europäer, die keine Grenzen kannten.

In Griechenland heißen sie Vlachen, Remeri in Albanien und Vlassi in Serbien. Das Aufkommen der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert besiegelte das vorläufige Ende des Volkes, das 1905 von Sultan Abdul Hamid als eigenständige Nationalität anerkannt wurde, um wenige Jahre später auf vier Staaten verteilt zu sein.

Die Reise nach Mazedonien auf der Suche nach diesen sterbenden Europäern könnte aktueller nicht sein. Gauß stößt dabei auf die 1903 kurzzeitig ausgerufene Republik Krusevo: "Anders als in Frankreich oder Deutschland, wo die bürgerlichen Ziele in einem Nationalstaat verwirklicht werden sollten, kämpften die Revolutionäre von Krusevo für eine Republik gleichberechtigter Nationalitäten." Gauß entdeckt bei seiner Suche auch, dass die Albaner die Minderheiten in ihrem Land unterdrücken und das EU-Mitglied Griechenland die Rechte der Vlachen grob missachtet.

Nicht zuletzt bringt er anschauliche Beispiele dafür, wie der Triumph der Nationalismus funktioniert, wenn es gelingt, die Minderheit mit dem Gefühl der Minderwertigkeit zu infizieren, so dass sie es selbst als Schande empfindet, nicht der Mehrheit anzugehören. Gauß ist aber gegen die Glorifizierung der Minderheiten gewappnet: "Legenden wurden da zur Gewissheit, Mythen zu Dokumenten, Spekulationen galten für Beweise, bald waren die ersten Aromunen Thraker, bald Vorfahren der Thraker, jedenfalls stets ein Stamm älter als alle anderen."

Wie er seinen Reisebegleiter durch Mazedonien beschreibt, der alle Menschen nach ihrer ethnischen Herkunft klassifiziert, das zeugt vom Spagat zwischen Faszination und Realitätssinn, verbunden durch Menschenliebe: "Ein Mensch, der in rascher Folge so viel Gescheites sagte und so viel Blödsinn daherredete, so einnehmende und abstoßende Züge zugleich hatte." Ein wesentliches Element zur Bewahrung des letzten Restes von Identität ist für die Aromunen wie für die anderen "sterbenden Europäer" die Erhaltung und Bewahrung der Sprache.

Im Süden Italiens, in Kalabrien, nimmt er die Spur der Arbereshe auf, jener Albaner, die nach der Eroberung ihres Landes durch die Osmanen 1468 nach Italien flüchteten und seitdem ihre Sprache und Kultur erhalten. Wenig bekannt ist wohl auch, dass aus dieser Minderheit zwei Mitstreiter Garibaldis stammten. Die Arbereshe sind Katholiken, die ihre Messe nach griechisch-orthodoxem Ritus feiern, statt der Hostie Brot reichen, deren Pfarrer heiraten dürfen, die jedoch den Papst als Oberhaupt anerkennen. Neben der Sprache ist es die Religion, die Minderheiten durch die Jahrhunderte zusammenhielt, wie zum Beispiel die Sorben in Deutschland rund um Bautzen, die lebendige Überreste des letzten der zwanzig slawischen Stämme sind, die Karl der Große besiegte. Seither sind die Sorben so oft besiegt worden, dass es ein Wunder ist, dass es immer noch Menschen gibt, die sich als Sorben bezeichnen: 1200 Jahre wurden sie von den wechselnden Herren der Region drangsaliert.

Reisen garantieren noch lang keine Einsicht in Zusammenhänge. Die Eindrücke können auch den Blick verstellen. Beispiele dafür gibt es genug. Denn wir sehen immer nur das, was wir zu sehen erwarten, sehen wollen. Gauß aber geht weder Klischees auf den Leim noch befolgt er Denkverbote. Dies betrifft sowohl die österreichische Debatte, in der er sich gegen eine Instrumentalisierung des Antifaschismus im Zuge der Proteste gegen Schwarz-Blau aussprach, als auch die Auswahl seiner Reiseziele. Auch der vernichteten Kultur der Gottscheer in Slowenien spürt er nach. Obwohl der Ruf nach dem Schutz dieser Minderheit auch als politisch instrumentalisierte Aufrechnung der nicht eingelösten Versprechen gegenüber den Slowenen in Österreich angesehen wurde, reiste Gauß auch nach Slowenien. Durch 600 Jahre haben die Gottscheer das Land bebaut, das sich eine Autostunde südlich der slowenischen Hauptstadt Ljubljana erstreckt. Der Niedergang begann mit wirtschaftlichen Notsituationen und Auswanderung und endete mit der Umsiedlung und vollständigen Zerstörung der Überreste nach dem Zweiten Weltkrieg. In diesem Fall ist die alte Kultur nur noch Erinnerung der Ausgewanderten und Umgesiedelten. Ihre allerletzte Heimstatt fand sie im Internet auf Homepages und in Stammbäumen zwischen den USA und Australien.

Gauß schildert das Schicksal dieser deutschen Minderheit und vergisst nicht auf die Ermordung der vielen Unschuldigen durch die Partisanen, die ebenfalls in den Wäldern rund um Gottschee passierte. Die Leichen wurden in die Dolinen geworfen. Gauß' Bereitschaft, sich der gesamten Geschichte zu stellen, verhindert, dass er in den Verdacht der Aufrechnung gerät. "Die ganze Reise über war mir die Gleichgültigkeit, mit der die ansässige Bevölkerung die Orte, selbst die Friedhöfe der nicht mehr hier ansässigen Bevölkerung verfallen ließ, roh und pietätlos erschienen. Hier im Hornwald, vor den Gräbern der Partisanen, die in den Baracken behelfsmäßig errichteter Spitäler krepiert waren, vor den Dolinen, in die die angeblichen und tatsächlichen Kollaborateure gestoßen wurden, kam mir in den Sinn, wie vieles den Slowenen angetan wurde und wie vieles sie einander angetan hatten. Und plötzlich, im tiefen Wald, begriff ich, dass ich mich mitten in ihrer Geschichte befand."

Bleibt nur noch eine Anmerkung zu diesem besonderen Europa-Buch. Die Erhaltung der Kultur und Sprache in einer fremden und zuweilen feindlichen Umwelt durch Jahrhunderte wird oft als besondere Leistung gewürdigt, vor allem dann, wenn es um die Erhaltung der deutschen Sprache und Kultur geht. Wenn diese Kultur, diese Sprache, nicht dem deutschen Kulturkreis angehört, wenn es um Minderheiten in unseren Grenzen, in unserem Land geht, sind hingegen nicht wenige Politiker schnell mit der Forderung nach Anpassung und Assimilierung zur Hand. In Deutschland heißt dies "deutsche Leitkultur". Karl Markus Gauß hat mit seinem Reisebuch auch Argumente gegen diese Halbherzigkeit und Verlogenheit geliefert. Gern zeigen wir uns beeindruckt von der Bewahrung der sorbischen Sprache, der Sprache der Albaner in Italien, doch warum sollten nicht auch unsere Minderheiten ihre Sprache und Kultur pflegen? Warum mögen wir kein Kurdisch im Waldviertel, keine russische Enklave in Hietzing, keine bosnische Gemeinde in Fünfhaus? Hoffen wir, dass sich Gauß auch weiterhin in die österreichische Debatte einmischt und weiter durch Europa reist, um solche Bücher mitzubringen.

Die sterbenden Europäer Von Karl Markus Gauß, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2001, 235 Seiten, geb., öS 291,- /e 20,35

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